Der Portwein-Erbe
konzentrieren noch interessierten ihn irgendwelche Akten. Aufmerksam, beinahe
ängstlich lauschte er auf jedes Wort von unten aus dem Büro. Jedes Telefonklingeln erschreckte ihn. Ein Spaziergang wäre das
einzig Richtige, oder war das ein Fluchtimpuls? Es wäre einfacher, alles hinzuschmeißen.
|241| 12.
10 000 Euro
Sie war wirklich klein. Senhora Verónica hätte unter Nicolas’ ausgestrecktem Arm durchgehen können, und besonders hübsch war
sie auch nicht. Dafür hatte sie Witz, sie machte einen konsequenten Eindruck und war damit genau die Lehrerin, die Nicolas
brauchte. Die dreißig hatte sie längst überschritten, war verheiratet und wohnte mit ihrem Mann und drei Kindern am Stadtrand
von Lamego. Nicolas benötigte eine knappe halbe Stunde bis dorthin. Der Gewöhnungsprozess an den Verkehr war nahezu abgeschlossen,
er hatte sich der Fahrweise angepasst, nur mit den gewagten Überholmanövern haperte es noch. Auf dem Weg über die Landstraße
hatte er einen weiteren Schrottplatz entdeckt, zwar nicht so schön gelegen wie der vor Mesão Frio, dafür kamen hier Weinstöcke
mit ins Bild. Nicolas hatte den zertrümmerten Geländewagen fotografiert, zu sehen, wie er von einem Raupenschlepper aus dem
Weinberg gezogen wurde, war recht eindrucksvoll, doch lange nicht so faszinierend wie ein natürlich gealtertes Wrack inmitten
von Reben.
Dona Verónica und er einigten sich auf das Honorar. Nicolas wollte zweimal wöchentlich zu ihr kommen, und sie sollte ihn zweimal
pro Woche abends auf der Quinta besuchen, wobei er auf kaufmännisches Portugiesisch als Unterrichtsthema bestand. An den restlichen
drei Tagen hätte er Zeit für »Schularbeiten«. Obwohl Senhora Verónica |242| Englisch sprach, war vereinbart, nach diesem Gespräch ausschließlich Portugiesisch zu sprechen. Dona Verónica zog es vor,
eine Sache lieber mit 100 Worten auf Portugiesisch zu erklären und auf weitschweifige Erklärungen sowie auf die Zeichensprache
auszuweichen, statt eine englische Übersetzung anzubieten. Dass er gerade jetzt Besuch aus Deutschland erwartete, betrachtete
sie als schädlich für sein Fortkommen. »
Tudo depende de você
«, lautete ihr Motto für die Schüler jeden Alters, »alles kommt auf Sie an«.
Bevor er zurückfuhr, gönnte er sich eine Rasur im Salon »Lord«. Es gefiel ihm, dass man ihn kannte und begrüßte. Mit Dona
Firmina war nichts verabredet, also ging er im Gasthaus von Folgosa essen. Er musste mehr unter Leute, die Einsamkeit tat
ihm nicht gut.
Nach dem Essen ging er auf einen Kaffee und einen Bagaço in die Kneipe, in der er nach dem Bergrutsch gelandet war. Nach einigen
Tresterschnäpsen an der Bar meinte er, bereits portugiesisch sprechen zu können, und auch das Fahren war kein Problem, nur
die Dunkelheit machte ihm auf seiner Piste zu schaffen. Besonders als er zurücksetzen musste, da ihm Dona Madalena in ihrem
Coupé entgegenkam. Man kam nicht aneinander vorbei, und ihm brach der Schweiß aus. Es war sowieso eine heiße Nacht. Wer bei
ihr auf dem Beifahrersitz saß, konnte Nicolas nicht erkennen, sie hatte aufgeblendet. Aber was ging es ihn an, was sie tat
und wen sie traf? Auf der Quinta jedenfalls ging sie allen aus dem Weg. Es ergab sich keine Gelegenheit, mehr über Friedrich
und ihr Zusammenleben zu erfahren. Nicolas hatte das Gefühl, auf der Stelle zu treten, die Zeit verrann, die Tage gingen vorbei.
Er lernte so viel und so schnell wie nie zuvor in seinem Leben. Aber wohin brachte ihn das? Besonders nachts kamen die Zweifel.
Was konnte er tun, um Otelo aufzutreiben oder wenigstens diesen Pacheca?
|243| Einige Tage später kam Carlos wieder vorbei. Sie hatten den Rundgang durch die Quinta beendet und auch die umliegenden Reblagen
besichtigt. Die Trauben entwickelten sich, die beiden Regentage kurz nach der Ankunft und auch die der letzten Woche hatten
keinen Schaden angerichtet, und die ganz extreme Hitze blieb aus.
Carlos bestätigte allerdings Nicolas’ Befürchtungen. »Der Betrieb ist nicht gut geführt. Soweit ich das beurteilen kann, ist
alles nur halbwegs in Schuss, und dann die Fehlmengen. Du kommst nicht daran vorbei, eine genaue Bestandsaufnahme zu machen,
sonst bekommst du Ärger. Weit schlimmer ist jedoch, dass die Weinberge von Fremden bearbeitet werden und dass keine Kontrolle
herrscht. Wie stellst du dir das vor, wenn die Lese beginnt? Die Trauben werden von Weinberg zu Weinberg und je nach
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