Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
der russischen Forschung vor ihr und in der grässlichen Tradition der Versager. Man würde sie vergessen. Man hätte auch Vladimir Iljič vergessen, stünde er in dieser Reihe. Ihre Revolution hätte es werden sollen. Das Unmögliche als neue Möglichkeit. Wozu sich reproduzieren, wenn man einfach nicht sterben könnte? Sie hätte es vorher an einem Straßenköter probieren sollen, wie jener, der auf dem Friedhof war, oder wie jener, der hier in Lenins altem Hof saß. Wie ähnlich sich doch alle Straßenhunde waren. Für Irina sahen alle gleich aus. Sie hätte den Zauber vorher schon versuchen sollen. Sich einen Kanarejka kaufen vielleicht. Den hätte sie mit Leichtigkeit selbst töten und wiedererwecken können. Aber die Versuchsreihe hatte nun eben geendet, bevor sie begonnen hatte. »Wir gehen nun weiter in das Lesezimmer der Uljanovsks. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.« Die Gruppe wurde in den nächsten Raum gewiesen. Nur die wichtigsten Bücher waren hier, die anderen, eine beachtliche Sammlung übrigens der Familie Uljanov, seien archiviert. Wie viele Bücher kann ein Mensch schon haben? Und in welchem wäre eine passende Antwort für Irina: Was tun? Sie hatte das Land verlassen, sie hatte sitzend ihre Pilgerreise hierher angetreten, und nun saß sie fest zwischen den Unmöglichkeiten. Woanders hinzugehen, würde nicht reichen. Oder könnte es? »Wir begeben uns nun in das Obergeschoß zu den Schlafzimmern der Familie Uljanov«, sagte die Führerin und Irina folgte brav. Es war eine erstaunlich einfache Entscheidung gewesen, die sie plötzlich traf. Vielleicht lag es daran, dass sie sie so schnell treffen musste. Sobald die anderen der Gruppe das nächste Schlafzimmer betraten, hatte sie entschieden. Sie hatte dafür nur zwei Schritte zurückbleiben müssen. Sie alle blickten nach vor und sie glitt, eine Bewegung, als würde sie auf dem Rücken schwimmen, unter das Bett, in dem Vladimir Iljič geschlafen hatte. Das weiße Gerüst über ihr und die überhängende Bettdecke verbargen ihren Körper und sie konnte warten, bis es Nacht würde. Dann könnte sie in das Lesezimmer hinuntergehen, das Schränkchen öffnen und hoffen, dass die Bücher nicht so entseelt waren wie das Gebäude.
Sie war nicht entdeckt worden, es war geschlossen, es war dunkel, und zu ihrem Erschrecken war es kühl. Selbstverständlich war es unbeheizt, doch in Odessa wurde es im Sommer nachts nicht so kühl, dass man frieren musste. In den meisten Wohnhäusern schaltete man die Heizung ab, bereits im April, denn sie war nicht mehr nötig. Auch Warmwasser hatten die meisten im Sommer daher nicht, Irina schon, sie besaß einen Warmwasserbereiter, einen eigenen. Anatol hatte keinen. Wie schade, dass er keinen Wert darauf legte, warm zu duschen oder zu baden, schließlich endete sein letzter Abend in einer kalten Badewanne. Sonst hätte er sie vielleicht gebeten, bei ihr duschen zu dürfen, und hätte dann mit den nassen Haaren am Gesicht klebend in ihrer Wohnung gesessen. Sie hatte die Taschenlampe noch eingepackt in der Handtasche, die jemand anderer für sie tragen würde, die Anatol für sie tragen würde, fänden sie nur zueinander, am Friedhof, wo sie sie benötigt hatte für ihr magisches Ritual, um zu sehen, wohin sie ihre Zaubersprüche sprach, ihre Zaubertränke goss und in wessen Venen sie sie spritzte. Der Zauber, der ihn hätte erwecken sollen: Wäre die Magie doch weniger an die Medizin gebunden. Sie hätte alte Zaubersprüche aus vorschriftlicher Zeit gemurmelt, hätte ins Grab gefasst, ihn herausgezogen, und hätte er entschieden weiterzuleben, hätte er ihren halben Herzschlag erhalten, sodass sich ein zweitaktiges Geräusch nur ergab, wenn man beide Herzen zugleich hörte, und sie hätten sich nie mehr trennen können, denn trennten sie sich, dann würde die Herzverbindung schwächer, dann stürben sie beide, und einen ganzen Herzschlag benötigte man zu zweit. Sie schaltete die Taschenlampe ein, klopfte kurz mit der Handfläche darauf, das Licht wurde stärker, sie streifte ihre Schuhe ab und kroch unter Vladimir Iljičs Bett hervor. Sie schlich in Socken in das Untergeschoß, die Kameras, von denen sie hoffte, dass sie nicht funktionierten, oder dass sie nicht beachtet würden, im Blick, schlich auf Zehenspitzen zu dem Bücherschrank mit den Glastüren, öffnete sie, zu langsam, meinte sie, denn sie knarrten, lauschte einen Moment, doch kein weiteres Geräusch war zu vernehmen. Ob das Museum nachts überhaupt bewacht
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