Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
Stadt endlich alleine genießen, in der Lenin, Gončarov und der Buchstabe ë geboren wurden. Geburt müsse wohl besser sein als Tod, denn sonst hätte sie auch für einen heilenden Kuss nach Moskau fahren können, zum Sarg Schneewittchenlenins. Vielleicht wäre er aufgewacht, aber warum sollte er? Uljanovsk ist ruhiger als Moskau. Es ist eine Kinderwelt. Die Häuser sind rosa und blau gestrichen, nur das Haus, in dem er aufgewachsen war, war rot. Selbst die sowjetischen großen Bauten waren nicht grau, sondern weiß. Barbies Sowjet, dachte sie. Als sie das Gebäude betrat, hatte die Führung gerade begonnen, sie würde sich einfach dieser anschließen, anstatt zwei Stunden zu warten. Was für ein Haus, das Haus reicher Menschen, dachte sie, mit Studierzimmern und Schreibtischen überall. Sie hatte bis heute keinen, sie erarbeitete alle Berechnungen am Küchentisch. Die Weltkarte hing über Vladimir Iljičs Tisch, da stand ein Mikroskop. Mit den Mikroskopen würde man irgendwann das Ende der Menschheit sehen können. Oder vom All aus, von einem sicheren Planeten namens Ceres mit einem Teleskop. So oder so würde die Welt vermutlich zugrunde gehen, wenn nicht jemand käme, sie zu retten. Die Rettung der Welt, das hatte sie sich als Kind oft vorgestellt. Dazu hatte sie studiert, und die Naturwissenschaften waren so naheliegend zur Weltrettung. Wie gerne würde sie es sich ansehen, Signale funken, wie sie immer gefunkt wurden. So wie jenes Brummen, dessen Antenne, bewacht von einem Hund, im Äther kundtut, dass die Welt noch steht. Wenn wir Kolonien errichtet hätten, weit weg, wie der Menschenfloh auf Hunden, damit er nicht aussterben musste. Sie seufzte, folgte der Mitarbeiterin des Leninmuseums in den nächsten Raum. Sie schüttelte den Kopf, ein Traum. Nicht mehr. Der Schädel ist wie der Helm eines Raumfahrers, man darf nicht heraus, sonst stirbt man, das wusste sie. Durch die verglaste Veranda blitzte die Sonne, die Bäume raschelten im Wind. Es war so hohl, warum war es so hohl? Das Gebäude war ein Sarg. Nur Möbel und veraltete Waschschüsseln, Teekannen und vor allem Landkarten in fast jedem Raum, Landkarten. Was würde er ihr wohl raten, was würde Vladimir Iljič ihr raten? Sie war gescheitert, sie hatte versagt. In jedem Bereich ihres Lebens. Sie hatte ihre Freundschaften verworfen für die Wissenschaft und sie war gescheitert, sie hatte alle Männerbekanntschaften, nicht viele, verworfen, aus demselben Grund, und sie war gescheitert. Sie hatte Anatol sterben lassen. An diesem Abend, an dem die Männer in seine Wohnung kamen, hätten sie ihn vielleicht nicht vorgefunden, wäre er bei ihr gewesen. Sie hätten im Bett gelegen und durch die doppelten Fenster beobachtet, wie sich die Lichtkegel der Taschenlampen der Männer in seiner Wohnung bewegten, so wie sie oft beobachtet hatte, von ihrem Beobachtungsposten, ihrem Bett, wie Anatol abends in der mit warmem Licht gefüllten Wohnung umherspazierte, Tätigkeiten verrichtete, alltägliche: sich etwas zu essen machte, ins Bad ging und mit nassen Haaren wieder herauskam. Wie schnell sie trockneten, so schön glatt und fein waren sie, obwohl sie so wunderbar an seinem Gesicht klebten, solange sie noch feucht waren. Wie er nach der Gitarre griff, um darauf zu spielen, da öffnete sie die Fenster, um hoffentlich ein paar Töne zu erkennen. Was für eine wunderbare tiefe Stimme. Wie er den Fernseher einschaltete, den man auch durch das Fenster sehen konnte, und wie sie manchmal überzeugt war, er lümmle nicht auf seiner Couch, sondern liege neben ihr und sie sähen sich die Sendung gemeinsam an. Sie hatte stets das gleiche Programm laufen wie Anatol und manchmal führten sie so, auf ihrem Bett sitzend, lange Unterhaltungen darüber, was gerade am Bildschirm geschehen war und welche Schlüsse aus den alten sowjetischen Meisterwerken des Films zu ziehen seien. Sie sahen »Solaris« gemeinsam und »Das goldene Kalb«. Wie schade, überlegte sie oft, dass er nichts davon wusste. Aber Vladimir Iljič wusste wohl auch keine Lösung. Sein Haus war so hohl. Hatte er nicht die Wissenschaft geschätzt? Ohne die Revolution wäre es niemals möglich gewesen, niemals möglich, Herzen zu transplantieren, die Herzen der Menschen in Hunde, die der Hunde in Menschen, die Hunde mit mehreren Köpfen, die Cerberi, die den Fortschritt der Sojuz hüteten. Und die Hundeköpfe, die noch ohne Körper Rat hätten geben können. Sie stand in wunderbarer Tradition der großen Errungenschaften
Weitere Kostenlose Bücher