Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
wurde? Sie atmete tief ein, der Duft von bedrucktem Papier stieg ihr in die Nase. Sie würde das Erste, was sie zu greifen bekam, lesen und daraus ihre Schlüsse ziehen. Sie leuchtete nicht einmal mit der Taschenlampe hinein, griff stattdessen einfach zu. Drückte das Buch an die Brust. Machte sich auf den Weg zurück zum Bett, doch legte sie sich nicht, wie zuvor, unter das Bett, sondern sie legte sich hinein, denn niemand war da, der sie tadeln würde, die Exponate nicht zu berühren. Hier hatte er als Kind gelegen und hier lag sie nun, erwachsen und ratlos. Sie leuchtete den Umschlag an, eine wunderschöne Ausgabe, gut gebunden: Gončarovs »Oblomov«. Sie seufzte. Natürlich würde sie es nicht schaffen, es in einer Nacht durchzulesen. Es hatte achthundert Seiten. So schnell las sie nicht, vor allem nicht Literatur. Formeln und Ziffern vielleicht, aber sie hatte Zweifel, in diesem Haus auf Formeln und Ziffern zu stoßen. Gut, dass sie es dereinst schon gelesen hatte. Verharren, ohne weiter an ihre Karriere, die in Grabestiefe verendet war, zu denken? Aber was würde sie tun? Ihr Geld würde nicht reichen, einfach dahinzuleben. Und schließlich: Sie konnte ja sonst nichts. Sie hatte nie etwas anderes getan, als sich mit den Wissenschaften zu befassen. Zudem hatte sie Glück gehabt, damit auch noch Arbeit zu finden. Weniger talentierte Studienkollegen arbeiteten in Supermärkten. Manche Kolleginnen hatten sogar die Supermärkte aufgegeben, als sie den Weg in die Ehe fanden. Aber auch diese Möglichkeit war am Grund des Grabes geblieben. Sie schlug das Buch auf und sofort wieder zu. Drückte es wieder an die Brust, schaltete die Taschenlampe endlich aus. Sie würde schlafen und morgen weiter darüber nachdenken, denn das Nachdenken missfiel ihr. Aufgeben. Oder die Frage, ob sie nicht bereits aufgegeben hatte, indem sie in diesen Zug gestiegen war. Doch ihr Körper drängte auf Bewegung. Im Rhythmus ihres zu schnellen Herzschlags quietschte eine der Bettfedern unter ihrem Rücken. Sie überlegte, dass sie masturbieren könnte, in Lenins Bett masturbieren, ob sie die Erste war, die außer ihm selbst auf diese Idee kam? Sie fuhr mit einer Hand unter den Bund ihrer Jean, zeichnete mit dem Finger außerhalb des Schlüpfers die Form von Schamlippen und Klitoris nach, atmete schon mühevoll, doch da war noch etwas Fremdes, im Atem oder außerhalb. Da war ein Geist im Zimmer, da war ein Geist in diesem Zimmer, dachte sie und sie versuchte den Atem anzuhalten, um das schwere Atmen des Geistes zu hören, doch wenn sie innehielt, hielt wohl auch der Geist inne, und das seufzerhafte Ausatmen konnte sie beständig nur dann hören, wenn auch sie ausatmete. Sie war verrückt geworden, glaubte sie, aber es konnte auch an dem Bett liegen, an der kühlen Luft und diesem weißen Bett, mit diesem weißen Gitter, wie die Betten eines veralteten Krankenhauses. Wie jedes Krankenhauses, das sie nicht aus dem Fernsehen kannte. Wie eine Irrenanstalt. Sie stand auf, legte die Bettdecke zurecht, griff ihre Schuhe und ihre Handtasche, schaltete ihr Licht wieder ein, schlich abermals nach unten. Sie konnte nicht einfach gehen, denn das Museum war abgeschlossen. Die Küche war das Ziel, dort hatte sie ein Bett gesehen, das mehr einer Höhle glich, über dem Ofen, unter der Decke, weich ausgepolstert doch ohne Federn und mit einem kleinen rosa Vorhang, um die Welt aus dieser Höhle auszusperren. Als würde ein Bär seine Winterstatt danach auswählen, dass sein Hinterteil genau hineinpasste. Der Fußboden in der Küche war hölzern und knarrte. Sie hatte nicht bedacht, dass auch dieses Bett kühl sein würde, da der Ofen nicht lief. Doch sie würde sich schon helfen. Für ein kleines Feuer am Herd war genug Holz da, sie würde das Wasser in ihrer Mineralwasserflasche opfern und erhitzen. Sie hatte die Wärmflasche, die kleine herzförmige, in die Handtasche gesteckt, weil sie in der Reisetasche keinen Platz mehr gehabt hatte. Ihre Füße waren, wenn sie schlief, oft so kalt und kaum gab es je die richtige Temperatur, die ihr Körper wünschte.
Wie ein grausames, kaltes, wabbeliges Tier lag am Morgen die abendliche Wärmflasche im Bett und rieb sich mit den eisigen Gummirillen an Irinas Füßen. Das kalte Vieh hatte sie geweckt, und es war wohl besser so. Sie musste sich verstecken, bevor das Museum öffnete. Die Sonne würde bald ihr lautes spöttisches Lachen ausgießen, kochend.
Fast hätte sie gewünscht, dass jemand käme. Draußen begann es
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