Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
war. Da musste man die Schilder gar nicht austauschen. »Aber die hieß doch früher anders«, gab der Zweite zurück. Indessen verließ der Alte den Flur, auf dem sie sich befanden, wie eigenartig er doch aussah, dachte Anatol, und dass es wohl an dem Glasauge lag, das er trug, er griff sich auf die Stirn, nein, das war kein Glasauge, wie hieß es denn, er hatte kein gläsernes Auge, nur eine einzelne Linse vor einem der Augen unter die Augenbraue geklemmt, Glasauge, Glasauge, wiederholte Anatol gedanklich, wissend, dass es nicht das Wort war, das er suchte. Er konnte dem eigenen Gedanken nicht trauen, aber wo kommt denn der Mensch hin, wenn er dem eigenen Gedanken nicht traut? Jetzt blickten ihn die beiden Milicionäre wieder an: »Das ist doch Koljas Freund, nicht?« »Bekannter«, korrigierte Anatol, denn er wusste nur mehr, dass er mit Kolja das eine oder andere Mal abgestürzt war, konnte sich aber an keine innige Freundschaft erinnern. »Na gut, wo liegt das Problem?«, sagte der Erste, er lümmelte an dem kleinen Tischlein, das in diesem Flur stand. »Man hält mich für tot.« Die beiden lachten. »Name? Ausweis«, sagte der Zweite streng, stand auf. »Anatolij Grigorjevič Ivanov, kein Ausweis«, antwortete Anatol und entwickelte sofort ein Schuldbewusstsein, da er keinen Pass vorzeigen konnte. Er blickte zu Boden. »Kein Ausweis. Hmm«, wieder in strengem Ton. Der Milicionär stand auf, klopfte an eine Tür rechts des Flurs. »Gib mal Anatolij Grigorjevič Ivanov ein«, sagte er und Anatol konnte eine Computertastatur hören. »Verstorben. Schule abgeschlossen, Studium nicht. Hat bis vor ein paar Monaten Halbwaisenpension erhalten«, sagte eine Frauenstimme. »Wann verstorben?« »31. August, also gerade erst.« Der Milicionär zuckte mit den Schultern: »Los, Grisha, sag’s dem Drachen, na hopp. Schlafen kannst du in der Pension oder wenn du tot bist.« Der andere ging los, eine Treppe am Ende des Flurs hinauf, als er wiederkam, wirkte er kleiner als zuvor, die Stimme klang noch strenger als alles, was Anatol bislang hier gehört hatte, als müsste dieser beweisen, dass er nicht geschrumpft war: »Freundchen, du wirst nach Kiev müssen, zum Kiever Einwohnermeldeamt, wir können da gar nichts machen.« Anatol schluckte. Immerhin hatten sie kein Geld verlangt. Was früher Mafia hieß, nennt sich heute Milicija. Er war wohl tatsächlich tot gewesen, damit war es wohl amtlich. Man druckte ihm eine Sterbeurkunde aus. Dokumente und Beamterei, das wirksamste Mittel gegen Unsterblichkeit. Es gibt auch böse Wunder, murmelte er, machte kehrt. Wo hatte er nur Čelobaka gelassen. War er mit hereingekommen? Ihm war, als ob er ein hündisches, wohliges Gurren hinter einer der Bürotüren hörte. Er schüttelte den Kopf, als er vor die Tür trat, einen dreckigen Köter wie Čelobaka hätten sie sicher gleich hinausgescheucht, noch schneller als einen dreckigen Köter wie ihn selbst. Es war ihm, als träte der Vodka immer noch aus allen Poren.
Halbwaisenpension, er hatte vermutlich gar nicht gearbeitet, überlegte er, als er vor die Tür trat, die Mutter, es war die Mutter, die gestorben war, an Krebs, als er dreizehn war. Sie hatte an einem Versuchsprogramm für eine neue Therapie teilgenommen. Sonst hätten sie sich keine Behandlung leisten können. Wie hatte die Mutter nur ausgesehen? Er versuchte sich zu konzentrieren, vergaß dabei sogar, nach Čelobaka Ausschau zu halten. Und was war dann eigentlich mit dem Vater? Er versuchte sich an ein Bild vom Vater zu erinnern. Er sah ihn von hinten, wie er vor dem Computer saß, am Grün auf dem Bildschirm konnte er erkennen, dass er Online-Poker spielte. Und er war sicher, dass sie beide betrunken waren. Anatol hatte gehen müssen. Und jetzt musste er einen Weg nach Kiev finden. Die Kirchenglocken läuteten, Anatol wurde hungrig, in seinem Leben war offenbar stets um Punkt zwölf gegessen worden, der Magen schien ihm aber gerade lauter als die Glocken.
XIV
Ведь этот город скользит и меняет названья,
Этот адрес, давно, кто-то тщательно стер.
Этой улицы нет, а на ней нету зданья,
Где всю ночь правит балом Абсолютный Вахтер.
Саша Башлачёв
Irina Sergejevna verabschiedete sich von der Vermieterin, diese meinte, dass sie das Museum ohnehin schon einige Male gesehen habe, zum Abendessen werde sie Pelmeni machen. Nun konnte sie die
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