Der Präsident
First Lady grüßte? Wenn er im Garten hinter dem Haus mit den beiden Kindern des Präsidentenpaares spielte? Und ihnen verheimlichte, dass der Ehemann und Vater Alan J. Richmond, Präsident der Vereinigten Staaten, nicht so nett, so freundlich, so liebenswürdig war, wie sie vermutlich glaubten? Wie das ganze Land glaubte.
Secret Service. Geheimdienst. Burton verzog das Gesicht. Aus einem befremdlichen Grund war es eine treffende Bezeichnung. Über die Jahre hinweg hatte er jede Menge Mist gesehen. Doch Burton hatte stets weggeschaut. Wie alle Agenten gelegentlich wegschauten. Es war ein besonderer, wenn auch unangenehmer Aspekt der Arbeit. Macht trieb Menschen in den Größenwahn; sie fühlten sich unbezwingbar. Das konnte gefährlich sein.
Mehr als einmal hatte Burton schon zum Telefon gegriffen, um den Chef des Secret Service anzurufen. Er wollte ihm alles erzählen, wollte retten, was noch zu retten war. Doch jedes Mal hatte er den Hörer wieder aufgelegt, unfähig, die Worte auszusprechen, die seine Karriere und damit sein Leben ruiniert hätten. Mit jedem Tag wuchs Burtons Hoffnung, dass alles vorübergehen werde, wenngleich der gesunde Menschenverstand ihm sagte, dass dies unmöglich war. Er wusste, es war mittlerweile zu spät, um die Wahrheit zu sagen. Hätte er einen oder zwei Tage danach angerufen und den Vorfall berichtet, wäre das noch erklärbar gewesen; inzwischen war es das nicht mehr.
Seine Gedanken kreisten um die Ermittlungen zu Christine Sullivans Tod. Mit großem Interesse hatte Burton den Autopsiebericht gelesen, den die Bezirkspolizei auf Anfrage des ach so betroffenen Präsidenten freundlicherweise zur Verfügung stellte. Zum Teufel auch mit dem Präsidenten!
Zerschmetterter Kiefer und Würgemale. Diese Verletzungen stammten nicht von seinen und Collins Schüssen. Christine Sullivan hatte allen Grund gehabt, den Mann umbringen zu wollen. Aber so etwas konnte Burton nicht zulassen, unter keinen Umständen. Es gab nicht mehr viel Unumstößliches, doch diese Tatsache zählte dazu, so sicher wie das Amen im Gebet.
Er hatte richtig gehandelt. Tausende Male sagte er sich das vor. Dafür war er praktisch sein ganzes Leben lang geschult worden. Gewöhnliche Menschen konnten nicht wissen, konnten unmöglich begreifen, wie sich ein Agent fühlte, wenn etwas schief ging, während er Dienst versah.
Vor langer Zeit hatte Burton mit einem von Kennedys Leibwächtern gesprochen. Der Mann war nie über Dallas hinweggekommen. Er war direkt neben der Limousine des Präsidenten marschiert und hatte doch nichts tun können. Der Präsident war gestorben. Genau vor seinen Augen war der Schädel des Präsidenten zerplatzt. Es wäre nie zu verhindern gewesen; dennoch redete man sich ein, man hätte irgendetwas tun, zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen treffen können. Nach links statt nach rechts zu schauen, ein Gebäude aufmerksamer zu beobachten, als man es getan hatte. Die Menge ein wenig wachsamer im Auge zu behalten. Der Agent war nie wieder der Alte geworden. Er kündigte beim Secret Service, seine Ehe ging in die Brüche. Den letzten Atemzug tat er zwar in irgendeinem Rattenloch in Mississippi, doch gedanklich hatte er die letzten zwanzig Jahre seines Lebens nur noch in Dallas verbracht.
Bill Burton würde das nicht passieren. Deshalb hatte er sich vor sechs Jahren vor Alan Richmonds Vorgänger geworfen und trotz der kugelsicheren Weste zwei 38er Kugeln abbekommen. Eine durch die Schulter, eine durch den Unterarm. Wie durch ein Wunder traf keiner der Schüsse ein lebenswichtiges Organ oder eine Arterie, so dass Burton nur ein paar Narben und den tief empfundenen Dank der ganzen Nation davontrug. Was noch wichtiger war, er hatte sich dadurch die Hochachtung seiner Kollegen errungen.
Und deshalb hatte er auf Christine Sullivan gefeuert. Heute würde er es wieder genauso machen. So oft es nötig war, würde er sie töten. Er würde den Abzug betätigen, zusehen, wie die 180 Gramm schwere Kugel mit mehr als dreihundert Metern pro Sekunde ihre Schläfe zerschmetterte und dem jungen Leben ein Ende bereitete. Sie hatte es so gewollt, nicht er.
Burton ging zurück an die Arbeit. Solange er es noch konnte.
Stabschefin Russell ging mit forschem Schritt den Flur entlang. Sie hatte soeben mit dem Pressesprecher des Präsidenten die angemessene Stellungnahme zum Russisch-Ukrainischen Konflikt durchgesprochen. Rein politisch betrachtet, hätte man sich auf Russlands Seite schlagen müssen, doch in der Regierung
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