Der Präsident
Richmond wurden Entscheidungen selten auf rein politischer Grundlage getroffen. Zwar verfügte Russland nun über sämtliche nukleare Interkontinentalwaffen, doch die Ukraine hatte weitaus bessere Aussichten, sich zu einem wichtigen Handelspartner für den Westen zu entwickeln. Walter Sullivan, der enge und jüngst von einem schweren Schicksalsschlag getroffene Freund des Präsidenten, verfolgte ein größeres Geschäft mit der Ukraine. Dieser Umstand war das Zünglein an der Waage zugunsten der Ukraine. Sullivan und seine Freunde hatten auf verschlungenen Pfaden etwa zwölf Millionen Dollar zu Richmonds Wahlkampf beigesteuert und ihm jede wichtige Unterschrift besorgt, die er für den Weg ins Weiße Haus brauchte. Richmond konnte nicht umhin, diese Bemühungen mit einem gewaltigen Gefallen seinerseits zu vergüten. Folglich würden die Vereinigten Staaten die Ukraine unterstützen.
Russell sah auf die Uhr. Sie war heilfroh, dass es auch noch andere Gründe gab, Kiew Moskau vorzuziehen, wenngleich sie sicher war, dass Richmond seine Entscheidung ohnehin nicht anders gefällt hätte. Loyalität war ihm überaus wichtig. Man blieb keinen Gefallen schuldig. Nur war ein Präsident eben in der Lage, Gefälligkeiten auf breiter, weltweiter Basis zu erweisen. Nun, da sie ein ernstes Problem beseitigt hatte, ließ sie sich am Schreibtisch nieder und wandte die Aufmerksamkeit einer ständig wachsenden Krisenliste zu.
Nach nur fünfzehn Minuten politischen Grübelns stand Russell wieder auf und trat langsam ans Fenster. Auf der bekanntesten Straße der Bundeshauptstadt herrschte nach wie vor reger Verkehr. Das Leben nahm in Washington seinen seit zweihundert Jahren nahezu unveränderten Lauf. Überall in der Stadt schickten Interessengruppen Geld, Intellekt und bekannte Persönlichkeiten auf das politische Schlachtfeld. Hauptsächlich drehte es sich darum, andere über den Tisch zu ziehen, bevor die es tun konnten. Russell kannte die Regeln besser als die meisten. Sie liebte und beherrschte das Spiel. Hier war sie ganz in ihrem Element; seit sie diesen Job hatte, fühlte sie sich so glücklich wie schon lange nicht mehr. Der Umstand, dass sie unverheiratet und kinderlos war, hatte ihr damals erstmals zu schaffen gemacht. Die beruflichen Auszeichnungen waren eintönig und bedeutungslos geworden. Doch dann trat Alan Richmond in ihr Leben und rüttelte sie wieder wach. Durch ihn erhielt sie die Möglichkeit, höhere Stufen zu erklimmen. Möglicherweise sogar eine Stufe, die nie zuvor eine Frau erreicht hatte. Der Gedanke hielt sie so sehr gefangen, dass die Erwartung sie manchmal erbeben ließ.
Und plötzlich riss ein verdammtes Stück Metall ein Loch in dieses fein gesponnene Netz. Wo war das Ding? Warum meldete der Mann sich nicht? Zweifellos wusste er, was sich in seinem Besitz befand. Wenn er bloß Geld wollte, würde sie zahlen. Die Schmiergeldfonds, über die sie verfügen konnte, reichten selbst für irrwitzige Forderungen, und Russell rechnete mit dem Schlimmsten. Das war einer der wundervollen Aspekte des Weißen Hauses. Niemand wusste, wie viel Geld tatsächlich erforderlich war, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Deshalb steuerten zahlreiche Ministerien einen Teil ihres Budgets und Personals bei, um das Weiße Haus zu unterstützen. Bei all dem finanziellen Durcheinander ließ sich selbst für die aufwendigsten Investitionen stets problemlos Geld auftreiben. Nein, dachte Russell, Geld war das geringste Problem. Dennoch blieben genügend andere, die ihr Kopfzerbrechen bereiteten.
Wusste der Mann, dass der Präsident sich wegen des Vorfalls längst keine Gedanken mehr machte? Die Frage lag Russell schwer im Magen. Was, wenn er versuchte, mit dem Präsidenten direkten Kontakt aufzunehmen, anstatt den Weg über sie zu wählen? Sie begann zu zittern und ließ sich auf einen Sessel neben dem Fenster fallen. Plötzlich war ihr kalt. Richmond würde Russells Absichten sofort erkennen, das stand völlig außer Zweifel. Zwar war er arrogant, doch gewiss kein Narr. Er würde sie vernichten. Richmond auffliegen zu lassen hätte auch keinen Sinn. Beweisen konnte sie gar nichts. Sein Wort stünde gegen ihres. Mit Schimpf und Schande würde sie im politischen Abfalleimer enden und, was viel schlimmer war, in Vergessenheit geraten.
Irgendwie musste sie den Kerl finden und ihm mitteilen, dass er sich ausschließlich bei ihr melden sollte. Nur ein Mensch konnte ihr dabei helfen. Sie setzte sich an den Schreibtisch, atmete einmal
Weitere Kostenlose Bücher