Der Prediger von Fjällbacka
dabei zuschauen.«
Das Lachen verschwand aus den Gesichtern der Kinder, und sie setzten sich kerzengerade wie Zinnsoldaten hin, mit leer starrendem Blick. Linda seufzte still. Manchmal konnte sie es einfach nicht fassen, daß Jacob und sie wirklich verwandt waren. Es gab keine anderen Geschwister, die so verschieden waren wie Jacob und sie, davon jedenfalls war sie fest überzeugt. Und es war verdammt ungerecht, daß er der Liebling ihrer Eltern war und ständig in den Himmel gehoben wurde, während man auf ihr nur herumhackte. Konnte sie was dafür, daß sie als nicht geplanter Nachkömmling auf die Welt gekommen war, als die Eltern die Kleinkindjahre schon hinter sich wähnten? Oder daß Jacobs Krankheit, viele Jahre vor ihrer Geburt, den Eltern jede Lust genommen hatte, sich dieser Sache noch einmal auszusetzen. Sicher verstand sie, daß es damals sehr ernst gewesen war, als er beinahe gestorben wäre, aber deshalb mußte sie doch nicht bestraft werden? Es war doch schließlich nicht ihre Schuld, daß er krank geworden war.
Später ist Jacob irgendwie immer weiter gehätschelt worden, auch nachdem man erklärt hatte, er sei völlig gesund. Es war, als würden ihre Eltern jeden Tag seines Lebens als ein Geschenk des Himmels betrachten, während ihr Leben den Eltern nur Ärger und Verdruß bereitete. Um ganz zu schweigen von Großvater und Jacob. Zwar verstand sie, daß nach dem, was Großvater für Jacob getan hatte, ein besonderes Band zwischen den beiden existierte, aber das bedeutete ja wohl nicht, daß es da keinen Platz mehr für seine anderen Enkelkinder gab. Großvater war zwar noch vor ihrer Geburt gestorben, also hatte sie seine Gleichgültigkeit nicht persönlich erleben müssen, aber sie wußte von Johan, daß er und Robert nichts von der Gunst des Großvaters zu spüren bekommen hatten und zusehen mußten, wie er seine ganze Aufmerksamkeit auf ihren Cousin Jacob richtete. Bestimmt wäre bei ihr dasselbe passiert, wenn er da noch gelebt hätte.
Diese Ungerechtigkeit ließ hinter Lindas Augenlidern heiße Tränen hervorquellen, aber sie zwang sie, wie schon so oft, wieder zurück. Sie wollte Jacob nicht die Befriedigung bereiten, daß er sie weinen sah und somit die Möglichkeit hatte, sich von neuem als Retter der Welt aufzuspielen. Sie wußte, daß es ihm in den Fingern juckte, sie auf den rechten Weg zu bringen, aber sie würde lieber sterben, als sich in einen solchen Fußabtreter zu verwandeln, wie er selbst es war. Brave Mädchen kamen vielleicht in den Himmel, aber sie gedachte viel, viel weiter zu kommen. Lieber wollte sie mit Donner und Getöse untergehen, als sich wie ihr älterer Bruder feige durchs Leben zu drücken, überzeugt davon, daß ihn alle liebten.
»Hast du für heute irgendwelche Pläne? Ich könnte hier zu Hause ein bißchen Hilfe gebrauchen.«
Marita schmierte in aller Ruhe noch weitere Brote für die Kinder, während sie ihre Frage an Linda richtete. Sie war eine mütterliche Frau mit alltäglichem Gesicht und leichtem Übergewicht. Linda hatte immer gefunden, Jacob hätte sich was Besseres suchen können. Sie stellte sich den Bruder und die Schwägerin im Schlafzimmer vor. Sicher machten sie es pflichtgemäß einmal im Monat, bei ausgeschalteter Lampe, die Schwägerin im fußlangen, hochgeschlossenen Nachthemd. Das Bild ließ sie loskichern, und die anderen schauten sie erstaunt an.
»Hallo, Marita hat dir eine Frage gestellt. Kannst du heute mal zu Hause mithelfen? Das hier ist keine Pension, wie du ja weißt.«
»Ja, ja, ich hab’s schon das erste Mal gehört. Du brauchst nicht gleich so zu meckern. Und nein, ich kann heute nicht helfen. Ich muß …« Sie suchte nach einer guten Ausrede. »Ich muß mich um Scirocco kümmern. Er hat gestern ein bißchen gehinkt.«
Ihre Ausrede traf auf skeptische Blicke, und Linda setzte ihre kampflustigste Miene auf. Aber zu ihrer Verwunderung war heute keiner imstande, sich mit ihr anzulegen, trotz der offensichtlichen Lüge. Der Sieg - und ein weiterer Tag voller Faulheit - gehörte ihr.
Er hatte eine unbändige Lust, nach draußen zu gehen und sich in den Regen zu stellen, das Gesicht zum Himmel gerichtet, um das Wasser auf sich herabrieseln zu lassen. Aber bestimmte Dinge konnte man sich als Erwachsener nicht erlauben, zumal, wenn man bei der Arbeit war. Martin mußte also diesen kindlichen Impuls bremsen. All das Stickige und Heiße, das sie in den letzten zwei Monaten gefangengehalten hatte, wurde von diesem einzigen
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