Der Prediger von Fjällbacka
gewesen war als der, den er seiner Umwelt täglich zur Schau stellte. Sie hatte ihn all die Jahre beobachtet, hatte ihn heimlich studiert und langsam jenen Mann kennengelernt, der er hätte sein können. Es verwunderte sie, welche Sehnsucht das in ihr geweckt hatte. Dieser andere war so tief begraben, daß sie glaubte, er wisse nicht einmal selbst davon, aber hinter der tristen, beherrschten Fassade verbarg sich ein leidenschaftlicher Mann. Sie sah viel angesammelten Zorn, aber glaubte, daß ebenso große Mengen Liebe vorhanden waren, wenn sie nur die Fähigkeit gehabt hätte, diese hervorzulocken.
Nicht einmal als Jacob im Krankenhaus gelegen hatte, war es ihnen gelungen, sich einander zu nähern. Seite an Seite hatten sie bei ihrem Sohn gesessen, auf den Kanten des Bettes, das sie für sein Totenbett hielten, doch ohne einander Trost schenken zu können. Und oft hatte sie das Gefühl gehabt, daß Gabriel nicht einmal wollte, daß sie dort war.
Die Schuld für Gabriels Verschlossenheit konnte zum großen Teil seinem Vater angelastet werden. Ephraim Hult war ein beeindruckender Mann gewesen, der alle, die mit ihm in Kontakt kamen, in zwei Lager spaltete, in Freunde oder Feinde. Keiner stand dem Prediger gleichgültig gegenüber, aber Laine verstand, wie schwer es gewesen sein mußte, im Schatten eines solchen Mannes aufzuwachsen. Seine Söhne hätten nicht unterschiedlicher werden können. Johannes war stets ein großes Kind geblieben, ein Genießer, der sich nahm, was er haben wollte, und nie lange genug blieb, um die Spuren des von ihm angerichteten Chaos zu bemerken. Gabriel beschloß, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen. Sie hatte gesehen, wie er sich für Bruder und Vater geschämt hatte, für deren ausladende Gesten, ihre Fähigkeit, bei allen Gelegenheiten wie eine Leuchtbake zu blinken. Er selbst wollte anonym sein und deutlich machen, daß er mit seinem Vater nichts gemein hatte. Mehr als alles andere strebte Gabriel Respektabilität, Ordnung und Gerechtigkeit an. Seine Kindheit und die Jahre des Herumreisens mit Ephraim und Johannes erwähnte er mit keinem Wort. Sie wußte dennoch so manches und verstand, wie wichtig es für ihren Gatten war, diesen Teil seiner Vergangenheit zu verbergen, der ja so schlecht zu dem Bild paßte, das er nach außen zeigen wollte. Daß es Ephraim gewesen war, durch den Jacob dem Leben zurückgegeben wurde, hatte bei Gabriel gemischte Gefühle ausgelöst. Die Freude darüber, einen Weg gefunden zu haben, die Krankheit zu besiegen, war von der Tatsache getrübt, daß sein Vater und nicht er selbst als Ritter in glänzender Rüstung zu Hilfe geeilt war. Er hätte alles dafür gegeben, in den Augen seines Sohnes als Held dazustehen.
Laine wurde in ihren Überlegungen durch ein Geräusch gestört. Im Augenwinkel sah sie einen Schatten, dann zwei rasch durch den Garten huschen. Erneut packte sie die Angst. Sie suchte nach dem schnurlosen Telefon und wurde von Panik ergriffen, bevor sie es schließlich an seinem Platz im Aufladegerät fand. Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer von Gabriels Handy. Etwas krachte ins Fenster, und sie schrie laut auf. Die Scheibe war durch einen Stein zu Bruch gegangen, der jetzt zwischen den Glassplittern auf dem Boden lag. Ein weiterer Stein zerschlug die Scheibe daneben, und schluchzend rannte sie aus dem Zimmer hoch ins Obergeschoß, wo sie sich im Badezimmer einschloß, während sie krampfhaft darauf wartete, Gabriels Stimme zu hören. Statt dessen kam eine eintönige Mobilboxmitteilung, und sie vernahm das Entsetzen in ihrer eigenen Stimme, als sie ihm eine unzusammenhängende Nachricht hinterließ.
Zitternd saß sie dann auf dem Boden, die Arme krampfhaft um die Knie geschlungen, und lauschte auf Geräusche vor der Tür. Nichts weiter war zu hören, aber sie wagte es nicht, sich vom Fleck zu rühren.
Als der Morgen kam, saß sie noch immer auf derselben Stelle.
Erica wachte vom Klingeln des Telefons auf. Sie schaute auf die Uhr. Halb elf Uhr vormittags. Sie mußte wieder eingeschlafen sein, nachdem sie sich, verschwitzt und keine richtige Lage findend, die halbe Nacht herumgewälzt hatte.
»Hallo.« Ihre Stimme klang schlaftrunken.
»Tag, Erica, habe ich dich geweckt?«
»Ja, Anna, aber das macht nichts. Am helllichten Vormittag sollte ich ohnehin nicht mehr im Bett liegen.«
»Doch, doch, nutze nur die Zeit und schlafe, soviel du kannst. Später bleibt für so was nicht viel Gelegenheit. Wie geht’s dir
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