Der Preis der Ewigkeit
Fingerspitze nach.
„Komm“, murmelte er. „Ich will dir etwas zeigen.“
Bevor ich antworten konnte, ergriff mich das mittlerweile vertraute Gefühl des Verschwindens und der Thronsaal verblasste. Doch an seine Stelle trat ein ähnlicher Raum, wo sich ein endloser Himmel vor uns ausbreitete.
Aber irgendetwas war hier anders. Vorher war es leicht gewesen, die Decke vom Fußboden zu unterscheiden, doch hier drinnen gingen beide ineinander über, als wäre es die Realität. Außer …
Ich blinzelte. Es war die Realität.
„Eigentlich hätte ich dich nicht herbringen sollen oder auch nur selbst herkommen“, gestand Henry. „Das ist der Balkon von Walters Privatgemächern – der Inbegriff seines Reichs – und er bewacht ihn aufs Schärfste. Aber es gibt nichts Schöneres auf der Welt, und ich wollte, dass du es siehst.“
Er führte mich an ein gläsernes Geländer, und schließlich konnte ich sehen, dass dies wirklich der unendliche Himmel war. Festgehalten in jenem Moment zwischen Tag und Dämmerung, strömten die Farben wie Wasser ineinander und in den Wolken schienen Flammen zu tanzen. „Das ist ja unglaublich“, flüsterte ich überwältigt.
Lange standen wir so da und schließlich legte er den Arm um mich und zog mich an sich. „Du kannst mir alles sagen, das weißt du, oder?“
„Ja“, antwortete ich leise.
„Dann erzähl mir, was dich bedrückt.“
Ich blinzelte hektisch und richtete den Blick auf den Horizont. Ich konnte Henry nicht anlügen. Erstens wollte ich es nicht und zweitens würde er es durchschauen. „Wir befinden uns mitten in einem Krieg, und beide werden wir wie Bauern hin und her geschoben, ohne zu begreifen, was dahintersteckt.“
„Das ist nicht untypisch für meinen Bruder“, bemerkte Henry vergnügt, doch ich brachte nicht einmal ein schwaches Lächeln zustande.
„Das hab ich nicht gemeint. Wir stehen doch alle auf einem riesigen Schachbrett, oder etwa nicht? Kronos sitzt auf der einen Seite und Walter auf der anderen und jeder von uns wird wie eine Schachfigur benutzt. Bloß dass ich auf Walters Seite nicht mal ein Bauer bin.“
Henry öffnete den Mund, doch ich sprach weiter, bevor er antworten konnte.
„Und erzähl mir nicht, ich würde mich irren. Wir wissen beide, dass es nicht so ist. Für Walter bin ich nutzlos. Ich hab versucht, ihm Informationen mitzuteilen, als Botschafterin zu fungieren, kämpfen zu lernen, damit ich helfen kann – aber er lässt mich einfach nicht. Kronos dagegen … Der setzt mich ein wie einen verdammten König. Einen Schritt pro Zug – in jede Richtung, die ihm gerade passt. Aber auf eigene Faust komme ich nie besonders weit, denn wenn ich das tue, wenn er mich verliert …“
„Er wird den Krieg nicht verlieren, wenn er dich verliert, wenn es das ist, was du glaubst.“ Henry wandte sich mir zu und hielt meinen Blick fest. In seinen Augen lag etwas Ernstes, Besorgtes, als wäre es lebenswichtig für ihn, mir das klarzumachen. „Du bist nicht der König in seinem Spiel. Wenn überhaupt, bist du ein Bauer – irgendetwas Kleines, Unauffälliges, leicht zu übersehen, nichts als Kanonenfutter. Aber wenn er dich dahin bekommt, wo er dich haben will – so tief ins feindliche Gebiet, dass wir nicht einmal wissen, dass du dort bist –, dann wirst du mehr für ihn sein. Aber nur wegen der Rolle, die du spielst, nicht deinetwegen. Trotz der Illusion all der Dinge, die er dir anbietet, wirst du nie etwas anderes als eine seiner Spielfiguren für ihn sein. Verstehst du das?“
Ich holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Es gab einfach keine gute Lösung für diesen ganzen Schlamassel. „Kronos will mich. Welchen gottlosen Grund er dafür auch immer haben, was auch immer er über mich denken mag, mich zu besitzen, bedeutet ihm etwas. Das kann ich nicht ignorieren.“
„Darum bitte ich dich auch gar nicht“, antwortete Henry. „Ich bitte dich darum, an mich und Milo zu denken und zu begreifen, dass du keinem von uns etwas nützt, wenn du in Kronos’ Gewalt bist. Einem Titanen kann man nicht trauen.“
„Jetzt hörst du dich schon an wie Walter“, murmelte ich.
Henry runzelte die Stirn. „Was Kronos angeht, hat er nicht unrecht. Die Einzige, die ihn davon abhalten kann, ein Versprechen zu brechen, ist Rhea und die hat ihre Einstellung zu diesem Krieg bereits klargemacht. Außerdem ist es das Risiko einfach nicht wert. Milo ist in Sicherheit. Ava sorgt für ihn, und sie wird nicht zulassen, dass ihm etwas
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