Der Preis des Lebens
neben seinem Reittier ins Stroh.
*
Die Angst konnte Egemunde an diesem Morgen noch so fest im Griff haben – Gerüchte und Neuigkeiten verbreiteten sich trotzdem mit der gleichen Geschwindigkeit wie sonst auch, fast als trügen die Mäuse sie mit tippelnden Pfoten von Haus zu Haus. Als Hauptbestandteil der momentan beliebtesten urbanen Legende bekam Visco entsprechend schnell heraus, wie er zum Haus von Narijas Familie gelangte. Dort angekommen, öffnete Narija höchstpersönlich die Tür. Ihre Augen waren gerötet, ihre Wange immer noch geschwollen, ihre Stimme nicht unbedingt eine Ausgeburt sündiger Verlockung.
Alles in allem also nach wie vor eine Herausforderung .
»Oh. Du bist es«, sagte sie müde und machte mit diesen vier Worten klar, dass sie lieber woanders gewesen wäre.
Viscos Lächeln verharrte wie ein standhafter Zinnsoldat auf seinem Platz. »Ich freue mich auch, dich zu sehen.«
»Verzeih.« Narija bemerkte, wie schroff sie Visco behandelte. Trotzdem sah sie ihren blassen Retter vom Vortag nach wie vor ohne große Begeisterung an. »Versteh mich nicht falsch, Visco«, rang sie sich schließlich eine notdürftige Erklärung ab, nachdem der geläuterte Vampir sich nicht wie ein Albtraum nach dem Aufwachen einfach in Luft auflöste. »Ich bin dankbar für das, was ihr getan habt.« Sie erinnerte sich an Lorns Gemeinheiten in der Höhle. » Du getan hast«, schränkte sie ein. »Wirklich. Aber jetzt muss ich mich um meine Familie kümmern. Es sind schwere Zeiten.«
Ob sie damit das Dorf im Allgemeinen oder ihre Familie im Besonderen meinte, wusste Visco nicht. Dennoch nickte er verständnisvoll, derweil sein Lächeln sich ehrenvoll zurückzog. Seine dunklen Augen ruhten nachdenklich auf Narija. Früher hätte er ihr mit wenigen Worten seinen Willen aufgezwungen oder sie allein mit seiner Stimme ausgezogen. Heute stand er hier und musste förmlich darum betteln , überhaupt nur von ihr beachtet zu werden.
Der Gedanke schmerzte ihn und weckte viele Erinnerungen.
»Darf ich trotzdem einen Moment reinkommen?«, fragte der Vampir dumpf, als das Schweigen zwischen ihnen allmählich peinlich wurde. Narija trat zögerlich zur Seite.
Visco spürte sofort den Schleier der Trauer, der über dem ganzen Haus hing und die ohnehin schon schwere Luft noch stickiger machte. Der enge, dämmrige Flur roch außerdem stark nach Weihrauch und Nelken. Dennoch stieg Visco nicht zum ersten Mal auch Narijas Duft in die Nase, und plötzlich hatte der Vampir das dringende Bedürfnis, der jungen Frau genau das Richtige zu sagen. Doch noch ehe er sich auch nur ganz ihr umgedreht hatte, traf ihn etwas hart am Hinterkopf und ließ ihn mit einem überraschten Grunzen nach vorn taumeln.
»Hinfort!«, ertönte außerdem eine aufgebrachte Männerstimme hinter Visco. » Hinfort, Kreatur! Hinfort, sage ich! Hinfort!« Fauchend und mit gebleckten Reißzähnen fuhr Visco herum ...
Und bekam neben einem weiteren Schlag – diesmal gegen das Kinn – noch eine Woge abgestandenen Wassers ins Gesicht.
»HINFORT, habe ich gesagt!« , wiederholte die kreischende Stimme energisch und überschlug sich dabei fast.
Visco wich geschickt wie ein junger Schössling mit dem Oberkörper zurück, als vor seiner Nase erneut ein Schemen durch die Luft zischte. Anschließend streckte er noch halb blind die Arme aus, bis seine Finger rauen Stoff berührten und sich in das Gewebe krallten. Wütend packte der Vampir seinen zwar immer noch unsichtbaren, nun aber wenigstens greifbaren Widersacher und schleuderte ihn seitlich gegen die nächste Wand.
Daraufhin begann nun wiederum Narija laut zu kreischen und zerrte wie eine Verrückte an Viscos Oberarm.
»Lass ihn los! Lass ihn los! Du sollst ihn loslassen!« Der nicht mehr ganz so geläuterte Vampir kämpfte unterdessen immer noch um eine klare Sicht. Endlich blinzelte er das letzte Brennen hinfort und schüttelte auch Narijas zarte Hände ab.
Visco musterte seinen Fang: In seinem Griff wand sich ein kleinwüchsiger Glatzkopf mit Hakennase, der eine braune Kutte trug. Ein schweres Holzkreuz baumelte an einer Kordel von seinem Hals, in der Hand hielt er eine Holzschale.
»Vater Murvin!«, rief Narija entsetzt, als der kleine Glatzkopf wie ein sterbender Esel mit den Augen rollte. Ihr Blick ließ vermuten, dass Visco soeben eine Kirche entweiht hatte und nackt auf dem Altar tanzte, nachdem er auf diesen gepinkelt hatte. »Er leistet meiner Familie Beistand!«, fauchte Narija. »Könntest du ihn jetzt bitte
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