Der Preis des Lebens
erholsamen Schlaf voll schlechter Albträume mit bleichen Händen übers Gesicht – Albinoschmetterlinge, die den Gram trotz ihrer eleganten Bewegungen nicht aus seinen Zügen wischen konnten.
Nächte wie diese taten Visco einfach nicht gut. Sie und die Stimmung, in die sie ihn brachten, waren Gift für seine Seele. Als er daran dachte, was Lorn wohl dazu sagen würde, wenn ein Vampir über den Zustand seiner Seele klagte, grinste Visco der in der Dunkelheit lauernden Melancholie humorlos entgegen.
Damit wanderten Viscos Gedanken weiter zu seinem mürrischen Partner.
Lorn war noch vor dem Frühstück aufgebrochen, um etwas zu erledigen , wie der Nachtjäger gewohnt wortkarg erklärt hatte.
Seitdem hatte Visco nichts mehr von Lorn gehört.
Visco fragte sich, wie der Jagam wohl Normalität für sich definierte – falls er sich überhaupt für so eine Definition interessierte. Der Vampir kippelte abwesend mit dem Stuhl nach hinten. Was Lorn gerade wohl trieb? Saß er auch in irgendeinem Loch und grübelte über die Nutzlosigkeit seines Daseins nach? Leckte er die vielen Wunden seiner eigenen Seelenvergangenheit? War er zu einem Heiler gegangen und befand sich gerade in einem magischen Heilschlaf? Oder war er bei einer Hure? Einer alten Flamme? Einem unehelichen Kind? Einem Informanten? Einem neuen Auftraggeber?
Visco wusste es nicht.
Was ihn noch trauriger und unzufriedener machte.
Denn wie armselig musste sein Leben inzwischen geworden sein, wenn er sich Gedanken über Lorn machte, nur um sich irgendwie von der Leere seines eigenen Daseins abzulenken?
*
Namask war seit jeher ein Sündenpfuhl gewesen.
Lorn erinnerte sich an die zum Teil recht hitzig geführten Debatten, die einst mit nachhallenden Stimmen und Argumenten in der altehrwürdigen Versammlungshalle im Stammhaus des Ordens auf Justica geführt worden waren. Damals hatte primär eine Frage die Diskussionen um Namask beherrscht: Ob es nicht angebracht wäre, die Stadt niederzubrennen und von Grund auf neu aufzubauen? Denn ohne all die Vampire, Höllenpriester, Ghoule, Kultisten, Perversen und anderen Ausgeburten der Sieben Höllen und menschlicher Abgründe, die sich in den dekadenten Schatten der Zivilisation versteckten, wäre Namask wohl sogar eine recht beschauliche Handelsstadt gewesen.
Es kam nie so weit. Die Fackeln mit dem richtenden Feuer der Reinheit des Einen blieben Namask fern.
In der Folge hatte die Stadt sich über die Jahre jenen traurigen Ruf erworben, den sie auch heute noch pflegte. Sicher, man bekam hier jedes Vergnügen und jede Sünde für einen bestimmten Preis – dafür lauerte aber auch an jeder Ecke der Tod oder wenigstens doch die Verdammnis.
Namasks Obrigkeit konnte gegen den kreisenden Sinkflug der kleinen Handelsmetropole in Richtung Fegefeuer nicht viel mehr tun, als die Augen offen zu halten und den Schaden nach außen hin halbwegs in Grenzen zu halten.
Deshalb hatte Lemis Orasa, einer der obersten Richter Namasks, Lorn auch eine Nachricht zukommen lassen. Um der alten Zeiten Willen bat der Richter darin um ein Treffen, nachdem einer seiner Informanten Lorn Tags zuvor das westliche Stadttor hatte passieren sehen, wie es schien.
Nach kurzem Zögern hatte Lorn entschieden, der Einladung seines einstigen Zimmergenossen nachzukommen . Lorn lächelte schwach in seinen Krug hinein, als er an den Anflug von wilder Paranoia dachte, den die Offenbarung von Lemis' Interesse und seinem Spitzel am Stadttor in ihm ausgelöst hatte. Zumindest so lange, bis der Jagam sich wieder an Lemis Marotte erinnert hatte: Schon immer hatte Lemis Orasa Informationen gesammelt wie andere Männer Münzen aus fremden Ländern oder die Unterwäsche schöner Frauen. Der Wert des Wissens, hatte Lemis stets gepredigt, konnte ganze Imperien zu Fall bringen, wie die Geschichte bewies – mit Silber ließen sich bestenfalls gedungene Mörder kaufen, die ohne das nötige Wissen allerdings wertlos waren.
An einem Punkt in ihrer gemeinsamen Vergangenheit hatte alles Wissen Lemis jedoch nichts geholfen: Justica hatte er nach einer gescheiterten Ritenprüfung verlassen müssen, um sich wieder in die normale Gesellschaft einzubürgern – und ohne seine Ausbildung zum Jagam abzuschließen.
Anscheinend hatte Lemis das Beste daraus gemacht.
Lorns Blick huschte über die teuren Kleider seines alten Freundes. Ob mit Silber oder wertvollem Wissen oder beidem: Lemis hatte es zu etwas gebracht und war, wenn man dem Gerede der Leute Glauben schenken wollte, eine feste Stütze
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