Der Preis des Lebens
Umhang griff. »Und hierauf.«
Ein prall gefüllter Lederbeutel fand seinen Weg neben Lorns Zinnkrug. Danach schob Lemis dem Jagam einen sauber gefalteten Zettel über den Tisch zu, ohne den Blickkontakt zwischen ihnen zu unterbrechen.
»Es ist vor allem eine Bande, die uns seit ein paar Wochen Ärger bereitet. Hier haben sie ihren Unterschlupf.«
Lorn ignorierte den Beutel. »Weiter«, knurrte er leise.
Der Richter nickte dankbar, trank einen Schluck Wein und begann dann in nach vorn gebeugter Haltung zu erzählen:
»Die Bande hat in den letzten Wochen immer wieder Schwierigkeiten gemacht. Sie sind nur auf Krawall und Terror aus, so weit ich das überblicken kann.«
»Du weißt, wo sie sich treffen.« Lorn zuckte mit den dornengekrönten Schultern. »Schick einen Trupp Soldaten hin. Das solltest du in deiner Position doch können, nehme ich an.«
Lemis schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht. Das sind alles reiche Sprösslinge, die von ihren Familien – noch – mit Geld und Einfluss gedeckt werden.«
Lorns Blick wurde hart. »Und du möchtest reiche, einflussreiche Bürger so kurz vor den Wahlen nicht verprellen, was?«
Nun war es an Lemis, mit den Schultern zu zucken.
»Du weißt anscheinend, wie es in der Politik läuft. Also, haben wir eine Abmachung? Beschäftige sie, pfähle sie, köpfe sie, vierteile sie, rädere sie, verbrenne sie, das ist mir gleich – solange du nur dafür sorgst, dass meine Stadt über Nacht nicht wieder in einem Meer aus Angst und leer getrunkenen Leichen ertrinkt. Natürlich darf deine Spur auf keinen Fall zu mir zurück führen – weder für den Bischof, noch für die Familien dieser blutsaugenden Bastarde.« Lemis nickte in Richtung des Beutels, der unangetastet neben Lorns Krug lag. »Es wird sich lohnen, keine Sorge. Und ich würde dir etwas schulden. Unter Freunden, natürlich, aber ... trotzdem .«
Lorn dachte an das Amt, für das Lemis vorgesehen war, und nickte innerlich. Ein solcher Kontakt mochte tatsächlich von Vorteil sein, wenn ihre Reisekasse künftig weiter solche Probleme machen würde. Die Hilfe für seinen alten Freund wäre dabei nicht nur eine zeitnahe Lösung, sondern auch eine vorsorgende Investition für die Zukunft.
»Die Frage ist nur, für wen sich das Ganze mehr lohnen wird«, sagte Lorn dennoch skeptisch, griff aber gleichzeitig mit einer ruhigen Geste nach dem Lederbeutel.
Der designierte Ratsvorsitzende schenkte seinem alten Zimmergenossen ein breites, zufriedenes Grinsen, das fast an früher gemahnte, an Tage auf der Insel und voller Hoffnung.
»Für uns beide natürlich, alter Freund, für uns beide ...«
*
Visco streckte den Arm aus, bis er das harte, kühle Wachs an den Fingern spürte. Er nahm den Stummel an sich, lehnte sich wieder zurück und betrachtete nachdenklich die krakelige Rune, ohne die Kerze oder das Siegel wirklich zu sehen .
Warum schaffte es schon ein einzelner, ungeselliger Abend in der Stadt, ihn so aus der Fassung zu bringen?
Weil er nach einer Woche nächtlicher Freuden keinen Spaß mehr an der Jagd auf Frauen hatte?
Visco lächelte schwach. Was hätte er dafür gegeben, wenn die Sache so einfach aus der Welt zu räumen gewesen wäre ...
Die Angelegenheit war komplizierter.
Seit er von seinem alten Ich befreit worden war, fühlte Visco sich in Städten schnell unwohl – wie ein rastloser Gefangener, der ziellos von einer Sinnlosigkeit zur nächsten pendelte, stets auf der Suche nach Ablenkung und Zerstreuung, da ihm der tiefere Sinn hinter allem verwehrt zu bleiben schien. In dieser Nacht spürte er einmal mehr überdeutlich, wie sehr er seines Phantomlebens überdrüssig war. Schließlich tat Visco letzten Endes nichts anderes, als zu essen, zu lesen, zu schlafen, zu kokettieren und zu huren, nachzudenken oder lange, aber sinnlose Wanderungen durch die Straßen zu unternehmen. Dabei brauchte der Vampir seit seiner Rückkehr aus der Finsternis mehr als jeder andere etwas, das ihn Tag für Tag von Neuem daran erinnerte, am Leben zu sein ; etwas, das ihm half, die Tage im Schatten der wiedererlangten Sterblichkeit mit Sinn zu füllen . Natürlich: Sobald sie wieder unterwegs waren, wünschte er sich stets die vermeintliche Behaglichkeiten der Stadt zurück, das gute Essen, den Wein und die hübschen Frauen, nur um es kurz darauf wieder zu verabscheuen und sich grüblerisch zurückzuziehen. Aber das war wohl in Ordnung und nicht mehr als die ewige Zerrissenheit seiner zurückgewonnenen Menschlichkeit, vermutete Visco. Er
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