Der Preis des Schweigens
kleinen bunten Plastikecken beisammenhatte, aber meine Mutter hatte mir verraten, dass mein Vater heimlich gepaukt hatte, um mich in diesem Jahr herauszufordern. Er nahm Gesellschaftsspiele immer furchtbar ernst. Seit ich acht oder neun Jahre alt war, hörte die Welt zweimal die Woche für eine halbe Stunde auf, sich zu drehen, weil dann Quizsendungen im Fernsehen kamen, die er und ich gebannt vom Sofa aus verfolgten.
Aus heutiger Sicht kam es mir eigenartig vor, dass auch für mich einmal wichtig gewesen war, ob ich ein Spiel gewann oder nicht.
Als mein Telefon piepste, dachte ich zunächst, es wäre meine Mutter, die uns mitteilte, dass sie bei Onkel Owen unter einer Lawine aus Weihnachtsplätzchen und Obstkuchen begraben lägen und daher später kommen würden. Aber dann erkannte ich die Nummer auf dem Display.
In der SMS stand: »Deine Weihnachtsspende war hochwillkommen. Im neuen Jahr wird eine weitere fällig. Ich melde mich.« Vierzehn Wörter, die meine ganze Welt zum Einsturz brachten. Oder die Tür zu einer neuen, düsteren Welt öffneten.
Eine Welle der Übelkeit überkam mich, und dann erklang auch noch das Dingdong der Türklingel. Ich hörte, wie meine Mutter lautstark »Fröhliche Weihnachten!« durch den Briefkasten posaunte. Aus jeder Silbe war die Festtagsstimmung überdeutlich herauszuhören.
Lieber Gott, ich schaffe das jetzt nicht. Nicht jetzt! , schrie ich innerlich, so heftig, dass ich Angst hatte, meine Augäpfel würden platzen. Das hier ist mein Zuhause, und es ist Weihnachten! Dan riss sich langsam von den blutgetränkten Stränden der Normandie und der weichen Umklammerung des Sessels los und klappte mit gespieltem Ernst sein Buch zu. »Also, auf in die Schlacht«, sagte er grinsend. »Bist du bereit fürs Gefecht? Meine kleine Intelligenzbestie hat schließlich einen Titel zu verteidigen.«
»Dan«, platzte es aus mir heraus. »Da ist etwas … Ich meine, ich weiß nicht, ob ich …«
»Schon gut, Schatz«, beschwichtigte er und beugte sich zu mir herunter, um mir wie einem Hundewelpen den Kopf zu tätscheln. »Das wird schon. Setz dich nicht unter Druck, es ist nur ein Spiel.«
»Darum geht es doch gar nicht! Scheiß auf Trivial Pursuit! Es geht um …« Sag es ihm nicht, sag es ihm nicht, sag am besten gar nichts. Das schaffst du alleine, sei kein Feigling , befahl die Stimme in meinem Kopf.
»He«, sagte Dan sanft und zog mich auf die Füße. »Mach dir keine Sorgen wegen deiner Mutter. Ich mache sie genau wie letztes Jahr mit Martini Rosso gefügig. Du wirst sehen, sie ist ganz brav.« Er umarmte mich so fest, dass ich mir vorkam wie in einer Schraubzwinge. Seine harten Muskeln und sein Geruch nach Duschgel fügten sich zu einem beruhigenden Schutzwall zusammen.
»Ich liebe dich, Dan«, brachte ich mühsam hervor. Mach, dass es wieder gut wird, flehte ich stumm, nur dieses eine Mal. Mach, dass es aufhört.
»Noch einmal stürmt, noch einmal, liebe Freunde!« , rief er theatralisch und ließ mich los, um mutig zur Tür zu stolzieren. »Shakespeare. Siehst du? Ich bin nicht nur ein dummer, ungebildeter Polizist.«
»Ich muss kurz meine E-Mails checken«, murmelte ich.
»Jetzt?«, fragte er ungläubig und leicht verärgert.
»Bin sofort wieder da.«
Und tatsächlich: Als ich mich in meinen E-Mail-Account einloggte, wartete dort ein neues Video. Es war dieselbe Filmsequenz wie vorher, aber diesmal war mein Gesicht zu sehen, ein wenig verschwommen zwar, aber für jeden identifizierbar, der mich kannte. Mit wachsendem Ekel starrte ich die Aufnahmen an, wie hypnotisiert von meinem Mund, der sich in rhythmischen, an einen Fisch erinnernden Stöhnlauten öffnete und schloss, während meine wilde Leidenschaft sich dem Höhepunkt näherte.
»Willst du diese oscarreife Darbietung im Internet sehen? Auf der Website der Polizei von Cardiff? Willst du berühmt werden?«, stand in der E-Mail. »Nein? Dann fahr auf der A436 Richtung Flughafen. 15. Januar.«
Flughafen? Ich vernahm ein halb ersticktes, schnaubendes Lachen und merkte, dass es aus meinem Mund gekommen war. Ich sollte zum Flughafen fahren? O Gott! Was würde er diesmal von mir verlangen? Dass ich eine Maschine charterte und den Umschlag über den Sanddünen von Ogmore-by-Sea fallen ließ? Dass ich ihn mit einem kleinen Fallschirm auf das Deck eines wartenden Schiffes abwarf, auf das der Wintermond schien? Hysterie ergriff von mir Besitz und meine Lippen verzogen sich zu einem starren Grinsen, das meine Zähne entblößte.
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