Der Preis des Schweigens
Es war offensichtlich, dass das Spiel gerade erst begonnen hatte.
Unten hörte ich, wie meine Mutter Dan abknutschte und ihn mit ihren Umarmungen fast strangulierte. Dann klirrten Gläser, und eine Flasche wurde geöffnet.
»Wo ist eigentlich mein Töchterlein?«, rief meine Mutter schallend aus dem Wohnzimmer. »Du kannst doch nicht den ganzen Nachmittag im Schlafzimmer herumsitzen! Wir haben dir und deinem Göttergatten noch mehr Geschenke mitgebracht! Außerdem wollte ich dir ein paar Sachen für die Hochzeit zeigen.«
Für die Hochzeit. O Gott.
Eilig fuhr ich den Laptop herunter. Sekunden später platzte meine Mutter ins Schlafzimmer. Die Pailletten auf ihrem schicken roten Weihnachtsjäckchen funkelten, während sie in der einen Hand ein Bündel Zeitschriften und Kataloge schwenkte und mich mit dem freien Arm umschlang und fast erwürgte.
»Hier … das musst du dir angucken, Jen«, sagte sie und sprühte nur so vor Begeisterung. Sie war von Kopf bis Fuß auf Weihnachten eingestellt, von ihrem ordentlich frisierten grau werdenden Haar bis zu den flachen Pumps. Aufgeregt zeigte sie auf zwei Hochglanzmagazine: »In dem hier sind Kleider, und in diesem Dessous. Die haben auch entzückende Sachen für Brautmütter! Vielleicht ziehe ich so einen Feder-Kopfschmuck an, das wirkt viel weniger plump als ein Hut. Ich habe dir einen Knick in die Seite mit diesen süßen Bustier-Dingern und figurformenden Korsetts gemacht, siehst du? Vielleicht willst du ja sogar Strumpfbänder anziehen?«
Ein Korsett? Strumpfbänder? Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?, hätte ich sie am liebsten gefragt. Verkaufen diese Hochzeitszeitschriften jetzt etwa auch Karnevalskostüme? Spiele ich in der Hochzeitsversion von Moulin Rouge mit? In mir stiegen plötzlich Erinnerungen an den Junggesellinnenabschied einer befreundeten Polizistin auf, die es wahnsinnig lustig und überhaupt kein bisschen nuttig fand, Moulin Rouge als Motto auszugeben und in Netzstrumpfhosen, Push-up-BH und Rüschenhöschen durch die Pubs von Cardiff zu ziehen. Um mich dem Motto wenigstens einigermaßen anzupassen, war ich als Conférencier erschienen, im Dreiteiler mit Fliege und Zylinder.
»Findest du nicht, dass du das Thema verfehlt hast, Jen?«, hatte mich Allyson, die zukünftige Braut, gefragt, während sie mit wackelnden Brüsten auf den Knien eines geistig minderbemittelten Muskelprotzes herumgehüpft war, den sie im Wetherspoons-Pub aufgerissen hatte.
An ihrem Kleid war ein Plastikpenis befestigt gewesen, und auf dem Rücken hatte sie ein Schild mit der Aufschrift »Ich übe noch« getragen. »Du bist immer so ernst«, hatte sie mir vorgeworfen. »Amüsier dich doch ein bisschen und mach dich locker, sonst halten dich die Leute noch für eine Lesbe!«
Als nun meine Mutter im selben Atemzug vom Heiraten und von weißen Seidenstrümpfen schwärmte, reichte es mir.
»Seidenstrümpfe? Strumpfbänder? Wird das eine Hochzeit oder ein verdammtes Cabaret?«, rief ich. »Soll ich etwa auch noch Cancan tanzen? Ich bin eine Braut und kein verfluchtes Callgirl! Es wäre wirklich schön, wenn wir mal einen Tag nicht über diesen ganzen Hochzeitsquatsch reden könnten! Herr Jesus auf dem Fahrrad, gibt es denn keine anderen Themen mehr?!«
»Gut, ganz, wie du willst, Fräulein Griesgram«, antwortete meine Mutter leichthin. »Ich dachte nur, dass dir vielleicht etwas Weibliches vorschwebt, weil eine Hochzeit schließlich ein ganz besonderes Ereignis ist. Ich lege dir die Kataloge unten hin. Tante Annie hat übrigens angeboten, die Hochzeitstorte zu backen. Und wenn du Zeit hast, die Sache mit den Gästefotos und dem Hochzeitsvideo zu besprechen, lass es mich wissen. Ein Freund von Onkel Owen arbeitet neuerdings als Hochzeitsfotograf und würde dir bestimmt einen guten Preis machen.«
Hochzeitsvideo? Kein Bedarf, dachte ich. Ich habe hier bereits ein hübsches, neunzigsekündiges Video-Highlight, das dir und den anderen Gästen bestimmt wahnsinnig gut gefallen würde.
Ich brach plötzlich in Tränen aus, zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit.
»Ach je, Jen, was ist denn nur los mit dir?«, fragte meine Mutter gutmütig. »Man bekommt ja fast den Eindruck, dass du überhaupt nicht heiraten willst .«
Sie tätschelte mir die Schulter (warum tätschelten meine Mitmenschen mich plötzlich, als wäre ich ein Pudel?) und strahlte Dan an, der mit einem Martini Rosso in der Tür stand. Heute war der einzige Tag im Jahr, an dem meine Mutter sich mehr als ein Glas
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