Der Preis des Schweigens
verschlang ich alles, bis auf anspruchslose Frauenliteratur (was ich wohl nicht begründen muss) und Krimis (es ist einfach witzlos, wenn man bei der Polizei arbeitet und dort täglich die echten Verbrechen mitbekommt).
Wenn ich nicht mindestens alle zwei Wochen im Buchladen vorbeischauen und schnell ein paar Bücher kaufen konnte, erlitt ich regelrechte Entzugserscheinungen. Schon als Kind hatte ich »meine Nase ständig in irgendein Buch gesteckt«, wie meine Mutter gerne erzählte. Das war durchaus wörtlich zu nehmen, denn für mich hatte der Reiz von Büchern immer schon mit ihrem Geruch zu tun gehabt, mit dem Gefühl des Papiers unter meinen Fingern. Der Geruch ist sozusagen der Vorbote und bietet einen Vorgeschmack auf das, was zwischen den Buchdeckeln steckt. Man saugt den Inhalt des Buches durch die Nase ein, nimmt sie in sich auf, die Verheißung der Seiten, die betörende Aussicht auf eine Welt, die nur darauf wartet, entdeckt zu werden.
Bevor ich anfing, mir meine Romane selbst zu kaufen, war Weihnachten für mich gleichbedeutend mit neuen Büchern. Jedes Jahr bestellte meine Mutter über den Zeitungskiosk im Dorf eine ganze Reihe von Jahreszeitschriften, Kinderbücher und Anthologien wie Tausendundeine Nacht oder 101 Gespenstergeschichten für mich. Bei Mr Lewis konnte man ab Juni jede Woche einen kleinen Betrag abstottern, damit man im Dezember nicht alles auf einmal zahlen musste.
Am Weihnachtsmorgen konnte ich meine Aufregung meist gar nicht mehr zügeln, und wenn ich die Bücher endlich ausgepackt hatte, saß ich im Schneidersitz vor meinen Schätzen und fuhr mit den Fingern über die Titelblätter von Jahreszeitschriften wie Twinkle, Mandy oder Girl , über die Buchdeckel von Grimms Märchen oder illustrierten Historienklassikern für Kinder wie Die drei Musketiere oder Lorna Doone.
In meinen Lieblingsgeschichten ging es meist um blaublütige Kinder, die versehentlich nach der Geburt vertauscht worden waren und in der falschen Familie aufwuchsen. In meinen Tagträumen fantasierte ich oft davon, dass ich selbst ebenfalls der falschen Familie ausgehändigt worden war, weshalb nun jeden Moment meine echte Familie in einer goldenen Kutsche oder – mit zunehmendem Alter passte ich meine Fantasien ein wenig an – in einer lackschwarzen Limousine vorfahren konnte. Es würde natürlich für einigen Aufruhr in Pontypridd sorgen, wenn ein Lakai mit Federhut oder ein samtgekleideter Diener vor unserem Haus vom Kutschbock sprang. Voller Begeisterung würde ich mich in die Arme meiner leiblichen Mutter werfen, einer wunderschönen, würdevollen Dame, die zur italienischen oder vielleicht zur schwedischen Aristokratie gehörte.
Jetzt, wo ich erwachsen war, besaß Weihnachten natürlich nicht mehr dieselbe Faszination für mich, aber ich bekam immerhin drei Romane von meiner Mutter geschenkt, ein Nachschlagewerk zur Bildsprache des Jugendstils von meinem Vater und einen unerwartet reizvollen Bildband über die Malerei der italienischen Renaissance von Dan. Alle diese Bücher lagen ausgepackt am Fuß des Sofas, aber ich konnte mich nicht dazu aufraffen, sie zu lesen. Während Dan sich mit Antony Beevor an die Strände der Normandie begab, zappte ich mich durchs Fernsehprogramm und aß noch ein paar Paranüsse, wegen des Selens und der essenziellen Fettsäuren.
Dabei gab ich mir Mühe, den Stapel mit Hochzeitsmagazinen und Broschüren, der mich auffordernd vom Beistelltisch am Fenster aus ansah, keines Blickes zu würdigen. Schließlich wollte ich mich über die Feiertage entspannen.
Meine filmreife Geldübergabe aus dem Zug heraus war einen knappen Monat her, und ich hatte keine weiteren E-Mails oder Textnachrichten von Justin bekommen. Allmählich erwachte in mir die Hoffnung, dass ich diese demütigende Episode als abgeschlossenen Fall betrachten konnte, um im Polizeijargon zu bleiben. In den letzten Wochen hatte ich mit einem starren Lächeln auf dem Gesicht weitere Hochzeitsvorbereitungen getroffen, mögliche Menüs probegegessen und zusammen mit meiner Mutter einen Chocolatier aufgesucht, um kleine Gastgeschenke aus Schokolade zu bestellen.
Inzwischen war es fünf Uhr nachmittags an diesem verregneten 26. Dezember, und meine größte Sorge bestand darin, den Besuch meiner Eltern zu überstehen, die sich zu einem frühen Abendessen mit Truthahnsandwiches angekündigt hatten. Außerdem hatte ich einen Trivial-Pursuit-Titel zu verteidigen. Ich war fünf Jahre lang in Folge die Erste gewesen, die alle
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