Der Preis des Schweigens
und wir bald nach Hause können, um etwas zu essen. Ich habe Lammkoteletts aufgetaut, die isst du doch so gerne.« Dan wurde immer unruhig, wenn er Hunger hatte, und heute war er seit halb sechs Uhr morgens auf den Beinen. Er drückte meine Hand, um mir zu verstehen zu geben, dass es ihm leidtat. Der Türsummer wurde betätigt, woraufhin die Standesbeamtin, eine grauhaarige Dame Mitte fünfzig, in der Mahagonitür erschien und uns mit Grabesmiene hereinwinkte.
Dan ging zuerst. Während ich dasaß, den tanzenden Staub beobachtete und einer Computertastatur lauschte, die ein paar Türen weiter klapperte, dachte ich: Jetzt wird es ernst. Wir erklären offiziell vor dem Gesetz unsere Heiratsabsicht.
Nach ein paar Minuten betrat ein junges Paar den Wartesaal. Das Mädchen war hochschwanger und der Junge schrecklich blass. Beide waren um die achtzehn und trugen Jogginganzüge. Nachdem sie mir gegenüber Platz genommen hatten, suchte das Mädchen meinen Blick, aber ich sah weg, weil ich zu müde für Smalltalk war. Es nützte nichts. Das Mädchen, das auf eine Art hübsch war, die schnell verbraucht wirkt, brannte geradezu darauf, sich mitzuteilen.
»Ganz schön unheimlich hier, oder?«, sagte sie, wirkte aber ganz und gar nicht so, als würde ihr das Gebäude Angst einflößen. »Ich bin ja so aufgeregt und kann es gar nicht mehr erwarten! Wann heiraten Sie ?«
»Äh, im Juni«, antwortete ich und lächelte. »Und Sie?«
»So bald wie möglich. Na ja, wenn’s geht, noch vor dem Baby.« Ihr Freund streichelte zärtlich ihren Bauch.
»Wann soll es denn kommen?«
»In zehn Wochen.«
»Es wird ein Junge. Der kleine Jayden«, sagte der Freund stolz.
»Brooklyn«, widersprach das Mädchen scherzhaft.
»Als ob!«, antwortete der Junge, worauf sich beide angrinsten.
»Nee, er heißt auf jeden Fall Jayden«, bestätigte das Mädchen. »Der Sohn von meiner Freundin Gemma heißt nämlich schon Brooklyn.«
Ich blickte auf die Uhr und lauschte auf das leise Murmeln von Dans Stimme, das durch die schwere Tür drang. Die dazugehörigen Fragen waren nicht zu hören. Ich überlegte, ob ich aufstehen, meine Handtasche nehmen und langsam hinaus auf die sonnenbeschienene Straße treten sollte. Ich hatte den Autoschlüssel in der Tasche. Ich konnte einsteigen, den Schlüssel drehen und losfahren. Wohin auch immer. Außer meiner Kreditkarte brauchte ich nichts. Wer wusste, wo ich sein würde, wenn die Dunkelheit sich sanft über das Land legte und die Luft immer kühler wurde?
Aber ich blieb natürlich sitzen, bis Dan mit erleichtertem Gesicht aus der Tür trat und ich an der Reihe war. Zwanzig Minuten später gingen wir nebeneinander zum Auto, nachdem die Standesbeamtin versichert hatte, dass wir die Bestätigung unseres Aufgebots per Post erhalten würden. Auf uns warteten Lammkoteletts und ewiges Eheglück.
6.
I m Handumdrehen war der zweite Weihnachtsfeiertag gekommen, und die besinnliche Jahreszeit lag fast hinter uns. Ich hatte nur drei Tage freibekommen und war fest entschlossen, sie bestmöglich zu nutzen, indem ich mich nur vom Sofa rührte, wenn es absolut nötig war. Dan hatte es sich im Wohnzimmersessel gemütlich gemacht und las D-Day. Die Schlacht um die Normandie von Antony Beevor. Er schätzte die militärhistorischen Texte von Antony Beevor sehr, weshalb ich ihm jedes Jahr, seit wir gemeinsam Weihnachten feierten, ein neues Buch von ihm schenkte. Auch dieses Jahr bildete keine Ausnahme. Dan hatte Stalingrad und Berlin 1945. Das Ende und Paris nach der Befreiung gelesen und auch sonst viele Werke von namhaften Historikern. Vor allem der Zweite Weltkrieg und Vietnam interessierten ihn, aber mittlerweile auch Irak und Afghanistan.
Ich fand geschichtliche Themen ebenfalls spannend, las aber auch über viele andere Themen, während Dans Lektüre sich ausschließlich auf historische Sachbücher und politische Analysen beschränkte. Anfangs hatte mich sein großes Interesse dafür beeindruckt, aber jetzt nervte es mich zusehends. Wenn ich ganz ehrlich war, misstraute ich Menschen, die nie Erzählliteratur lasen, weil ich sie einfach nicht verstand. Wenn ich keinen Roman neben dem Bett liegen und einen weiteren in der Handtasche hatte, geriet ich in Panik, ähnlich wie bei einem verlorenen Körperteil, dessen Abwesenheit noch lange schmerzt. Im gerade zu Ende gehenden Jahr war zeitgenössische Belletristik meine große Leidenschaft gewesen, aber ich hatte auch viele alte und moderne Klassiker gelesen. Eigentlich
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