Der Preis des Schweigens
»Du hast mich am nächsten Morgen einfach sitzenlassen. Und angerufen hast du auch nicht.«
»Aber ich hab’s versucht«, sagte er und sah mich mit seinen blauen Augen eindringlich an. »Als ich vom Strand zurückkam, habe ich es bei dir probiert, und später noch einmal, aber …« Er ließ seine Worte im Nichts verhallen. Offenbar wollte er damit andeuten, dass er nicht freiwillig den Kontakt zu mir verloren hatte und voller Sehnsucht an mich zurückdachte. Netter Versuch, sagte jener winzige Teil meines Gehirns, der noch funktionierte und meinem Mund die richtigen Impulse schickte.
»Du hast aber keine Nachricht hinterlassen«, insistierte ich.
»Ich dachte, dass es vielleicht besser wäre, wenn ich das nicht tue. Ich meine, du bist schließlich verlobt und so. Ich wollte nicht, dass du in Schwierigkeiten gerätst. Und nachdem du mich nicht angerufen hast, war der Fall für mich klar.«
Ein nobler Schmerz trat in seine Augen, und er schob sich die Haare aus der Stirn und bedachte mich mit einem tieftraurigen Lächeln, mit dem er einen Stein hätte erweichen können.
»Wie denn? Ich hatte deine Nummer nicht«, brachte ich hervor.
»Natürlich hattest du meine Nummer. Ich habe sie neben das Bett gelegt.«
Ich dachte nach. Konnte ich eine Telefonnummer neben dem Bett übersehen haben? Aber auf meinem Handy waren keine entgangenen Anrufe angezeigt worden. Also hatte auch keine Nummer neben dem Bett gelegen.
»Du hast nicht angerufen«, sagte ich nach kurzem Zögern. »Nicht ein einziges Mal. Allerdings habe ich deine reizenden E-Mails und Textnachrichten bekommen. Aber das weißt du ja alles längst, Justin.« Dann fügte ich hinzu: »Oder sollte ich lieber Paul sagen?«
Als ich diesen Namen sagte, wurde sein Blick leer und ausdruckslos. Das machte mir Mut. Ich war neugierig, wohin das alles führen würde, und preschte weiter voran: »Und du wohnst auch nicht in Penallt, nicht wahr? Genauso wenig, wie du für den Cool Cymru -Führer arbeitest.«
Spätestens jetzt hatte ich seine volle Aufmerksamkeit. Ihm war deutlich anzusehen, dass er sich gerade zum ersten Mal fragte, wie es dazu gekommen war, dass ich an einem feuchtkalten Freitagnachmittag vor Santos’ Surf-Shop stand, kilometerweit von dem Ort entfernt, an dem wir uns kennengelernt hatten.
»Du hast recht, ich habe nicht angerufen«, sagte er schließlich, und seine Stimme klang immer noch ruhig und geduldig, auch wenn ich jetzt einen Hauch von Wachsamkeit herauszuhören glaubte. »Ich bin wieder mit meiner Exfreundin zusammengekommen, okay? Ich weiß, dass ich mich scheiße verhalten habe, aber mich hat das Ganze auch irgendwie durcheinandergebracht. Ich wusste ja, dass du heiraten würdest. Also dachte ich, dass es für alle Beteiligten besser wäre, wenn wir uns nicht wiedersehen.«
Er zögerte und senkte wieder den Blick, bevor er durch seine Stirnfransen zu mir nach oben schielte. »Aber unsere Nacht war irgendwie etwas Besonderes, oder?«
Die Gefühle, die in mir gegeneinander ankämpften, schnürten mir die Brust ab und legten sich wie eine kalte Hand um meinen Hals, bis ich kaum noch Luft bekam. Ja, unsere Nacht ist tatsächlich etwas Besonderes gewesen , wollte ich sagen, wollte es so laut hinausschreien, dass er es zur Kenntnis nehmen musste. Zwischen uns war etwas gewesen, das stand fest.
Gleichzeitig fehlte mir etwas ohne den Wein, der einen romantischen Schleier über unsere Begegnung im Pub und unsere gemeinsame Nacht gelegt hatte. Justin überzeugte mich nicht mehr. Ich hatte dieses Hervorschielen unter seinen Ponyfransen schon einmal gesehen und spürte regelrecht, wie es in ihm arbeitete, wie er mich abschätzte. Winzige Zahnräder bewegten sich in seinem Kopf und wägten die verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten ab. Die Entscheidung würde weder aufrichtig noch spontan sein. Justin legte sich eine Strategie zurecht, um unter allen Umständen die Oberhand in diesem Spiel zu behalten.
Im Hinterkopf hörte ich die Stimme meiner Mutter. Wer zweimal auf den gleichen Trick hereinfällt, ist selber schuld. Ich würde mich auf keinen Fall noch einmal von ihm zum Narren halten lassen und beschloss, den nächsten Spielzug zu verhindern. Fang jetzt bloß nicht an zu heulen, befahl ich mir selbst. Wehe, du wagst es!
»Brauchst du das Geld wirklich so dringend?«, fragte ich. Meine Stimme klang jetzt strenger und viel selbstsicherer, als ich mich fühlte. »Hattest du es wirklich nur auf die Kohle abgesehen, oder verschaffst du dir auf
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