Der Preis des Schweigens
erhalten.
Aber wenn ich ehrlich war, hatte ich von Anfang an gewusst, dass er es war. Ich hatte es nur nicht wahrhaben wollen.
Wie konnte ich so dumm sein? , fragte ich mich, als ich zitternd und gelähmt in meinem Auto saß. Es war nicht so, als wäre ich bisher naiv durchs Leben gegangen. Das ging gar nicht in der Branche, in der ich arbeitete.
Bis zum heutigen Tag war die Sache mit Justin halb Spiel, halb Ernst für mich gewesen, ein verwirrendes, schmerzhaftes Abenteuer, das immer noch ein positives Ende nehmen konnte. Ich hatte ein bisschen Detektivin gespielt, mich als verdeckte Ermittlerin betätigt und dabei tief im Inneren die Überzeugung gehegt, dass es sich nur um eine vorübergehende Unannehmlichkeit handelte. Ich war mir sicher gewesen, dass sich das Problem irgendwie lösen ließ, wenn ich es mit Logik und Vernunft anging. Bei meiner täglichen Arbeit klappte das doch auch.
Aber der vollkommenen Gleichgültigkeit, die Justin an den Tag legte, hatte ich nichts entgegenzusetzen. Er ließ nichts von dem, was ich sagte, an sich heran. Es war ihm egal, welche Auswirkungen seine Tat auf mich und meine Mitmenschen hatte, weil er es schlichtweg nicht nötig hatte, sich vernünftig oder mitfühlend zu zeigen. Er besaß die Macht, und ich besaß gar nichts.
Das ist unfair! Das ist so was von unfair! , brüllte eine schrille, kindliche Stimme in meinem Kopf.
Er hatte mich ausgelacht. Ich mochte es nicht, wenn man mich auslachte. Ganz und gar nicht.
Trotzdem musste ich die zweite Zahlung leisten, wenn ich nicht riskieren wollte, dass Justin seine Drohungen wahrmachte.
In diesem Moment wünschte ich mir sehnlich, mit Dan reden zu können. Normalerweise war er bei jedem Problem und jeder Zwickmühle der Erste, den ich um Rat fragte. Während ich von Porthcawl nach Hause fuhr und an den gleichmäßig hin und her pendelnden Scheibenwischern vorbei auf die Straße starrte, wurde mir klar, dass er die einzige Person auf der ganzen Welt war, der ich vertraute.
Im Radio lief The Bends von Radiohead, und Tom Yorke sang wütend von einem Mädchen, das niemanden hatte, an den es sich wenden konnte.
Der Song hatte schon immer eine beunruhigende Wirkung auf mich gehabt, aber jetzt schien er mit seinen heulenden Gitarrenklängen regelrecht nach mir zu schlagen, mein ohnehin schon gebeuteltes Selbstwertgefühl auszupeitschen und den roten Striemen an meinem Oberarm noch mehr anschwellen zu lassen, bis er sich zu einem Bluterguss in Form einer Hand auswuchs.
Der Song nahm mich deshalb so sehr mit, weil auch ich keine echten Freunde hatte. Es gab niemanden, mit dem ich über meine missliche Lage sprechen konnte.
Becky hätte mich nicht verstanden. Sie zog alleine ihr Kind groß, hatte einen Job, der ihr keinen Spaß machte, und wohnte bei ihrer Mutter. Für sie war Dan der Inbegriff des perfekten Mannes, strahlend und unbefleckt. Wie konnte ich, die ich dreimal so viel verdiente wie sie, in meinem eigenen Haus lebte und eine Hochzeit mit diesem Prachtexemplar von einem Mann plante, von ihr verlangen, dass sie Verständnis für mein Verhalten zeigte? Das war absurd. Vielleicht würde sie sogar heimliche Genugtuung über meinen Absturz verspüren, darüber, dass ich endlich einmal von meinem hohen Ross herabstieg. Wir würden zur Abwechslung die Rollen tauschen, und sie würde den Moralapostel spielen.
Außer Becky gab es noch Serian, mit der ich zwar ab und zu nach der Arbeit ein Gläschen Wein trank oder in der Mittagspause in einem Café über die dicke Paula lästerte, aber ansonsten keine Gemeinsamkeiten hatte. Wir waren keine Freundinnen, die sich gegenseitig Geheimnisse anvertrauten, zumal Serian nichts für sich behalten konnte. Außerdem himmelte sie Dan genauso an wie Becky.
Meine Mutter einzuweihen war absolut ausgeschlossen. Ich hatte ihr nie etwas von meinen grundsätzlichen Zweifeln gesagt, was die Hochzeit anging, weil ich genau wusste, was sie darauf antworten würde: »Sei dankbar für das, was du hast, meine Liebe. Einen besseren Mann kann man sich gar nicht angeln.« Dan konnte in ihren Augen nichts falsch machen. Wenn ich ihr erzählt hätte, dass er mich mit einer anderen betrog, hätte sie sein Verhalten schweren Herzens akzeptiert. Schließlich war er ein Mann. Ich hingegen war die unbekümmerte, praktisch veranlagte Jennifer, die so etwas nicht tat. Wozu auch? Ich hatte keinerlei Grund, unzufrieden zu sein und mich egoistisch und unwürdig zu benehmen.
Nein, bei echten Problemen wandte ich mich
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