Der Preis des Schweigens
grundsätzlich an Dan. Wenn ich wieder einmal mit der dicken Paula aneinandergeraten war, weil ich mich nicht ordnungsgemäß an- oder abgemeldet oder den Arbeitszeiterfassungsbogen nicht so ausgefüllt hatte, wie sie sich das vorstellte, hörte sich Dan geduldig meinen entrüsteten Monolog an und machte dann einen Vorschlag, wie ich die verbitterte alte Schachtel am besten aus meinen Gedanken verbannte. Wenn ich nervös war vor einem wichtigen Meeting oder eine unerfreuliche Begegnung mit einem arroganten Kollegen erlebt hatte, stand Dan mir bei. Hatte ich Streit mit meiner Mutter, schlug er sich zuverlässig auf meine Seite, und wenn ich einfach nur schlecht gelaunt war und jemanden brauchte, bei dem ich meinen Frust abladen konnte, war er immer für mich da, hörte mir zu und verwöhnte mich mit Tee und tröstenden Worten.
Aber jetzt hatte ich niemanden, den ich um Rat fragen konnte. Ich war ganz allein mit den Gedanken in meinem Kopf, mit meinem Selbstmitleid und meiner Verwirrung, genau wie das Mädchen aus dem Radiohead-Song. Ich hatte keine Ahnung, wie es war, wenn man »the bends« hatte, die Taucherkrankheit, aber wenn es auch nur annähernd an die panischen Schwindelgefühle herankam, die jetzt in mir aufstiegen, wünschte ich sie niemandem.
Außer Justin. Ihm wünschte ich noch viel schlimmere Dinge an den Hals.
Ich dachte ernsthaft darüber nach, ihm kein Geld mehr zu zahlen. Es ging mir weniger um das Geld als darum, dass ich den Gedanken nicht ertrug, dass er mit seiner Drohung Erfolg hatte.
An dem Abend, an dem ich das Geld übergeben sollte, fuhr ich auf der Landstraße, die er mir in seiner letzten SMS genannt hatte, zum Flughafen hinaus. Zum Glück war Dan bis in die frühen Morgenstunden mit seiner Pandemie-Übung beschäftigt. Als der Flughafenkontrollturm vor mir über den Feldern aufragte, traf eine neue SMS ein. Ich folgte den Anweisungen und hielt an der beschriebenen Bushaltestelle, wo ich den Umschlag in eine gelbe Streugutkiste warf. Dann fuhr ich wieder davon. Mir war keine andere Wahl geblieben.
Es war schon das zweite Mal, dass mich der Mut verlassen hatte, das zweite Mal, dass mich Justin übervorteilt hatte. Ich wusste zwar noch nicht, wie ich das erreichen würde, aber ich war fest entschlossen, dass es kein drittes Mal geben würde.
10.
I ch zog meine Leggings und einen Kapuzenpullover an, schnürte meine Turnschuhe zu und joggte los. Die Bewegung tat mir gut. Für Mannschaftssportarten hatten mir immer schon die Geduld und der Ehrgeiz gefehlt, daher hatte ich irgendwann mit einer chronisch nervösen schottischen Freundin namens Pam, die ich aus den Anglistik-Seminaren an der Uni kannte, mit dem Joggen angefangen. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen fühlten wir uns von den komplizierten Choreographien der angebotenen Aerobic-Kurse überfordert, und auch die betont munteren Anfeuerungsrufe der Kursleiterin gingen uns auf die Nerven.
Wenn man die Kilometer zusammenzählen würde, die ich seither gerannt bin, könnte man den Großraum Cardiff bestimmt Hunderte Male umspannen. Ich achtete allerdings nie auf die Distanz oder die Zeit, und es ging mir auch nicht darum, Kalorien zu verbrennen. Ich nahm weder an Firmenläufen noch an Halbmarathons teil und war auch kein Mitglied in einem Laufverein. Ich zog einfach dreimal die Woche die Turnschuhe an und rannte los.
Im Sommer lief ich abends in kurzer Hose und T-Shirt durch die Parks oder am Fluss entlang, bis sich die Blätter im Spätsommer allmählich färbten und im Herbst schließlich ganz abfielen. Im Winter joggte ich in langer Sporthose, langärmeligem Fleecepullover, Baseballkappe und Handschuhen durch die dunklen, stillen, regennass glitzernden Straßen der Stadt. Die Kälte machte mir nichts aus, genauso wenig wie die Dunkelheit. Ich genoss sie sogar, denn ich liebte die Anonymität. Je menschenleerer die Strecke war, desto besser, obwohl ich natürlich immer mein Handy in einer kleinen Tasche am Arm trug und alle Passanten im Auge behielt, um rechtzeitig fliehen zu können, wenn ich mich bedroht fühlte.
Ich rannte nie mit iPod, damit ich keine Begehrlichkeiten weckte und jederzeit hörte, wenn sich jemand von hinten an mich heranschlich. In den vergangenen sechs Jahren hatte ich zu viele diesbezügliche Warnungen herausgegeben, um selbst so unvorsichtig zu sein, im Dunkeln mit iPod zu joggen. Aber ich verzichtete vor allem deshalb darauf, weil ich die Stille genoss.
Das Geräusch meiner Füße, die gleichmäßig auf
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