Der Preis des Schweigens
war.
Falls dem so war und wir die Angelegenheit gemeinsam aufklären konnten, musste mir Justin allerdings immer noch erklären, warum er mich am nächsten Morgen allein gelassen und seither nicht angerufen hatte. Vielleicht war er verwirrt gewesen, oder in einer akuten Notlage, oder er hatte meine Handynummer verloren und wusste nicht, wie er mich finden sollte.
Ein Teil von mir wollte tatsächlich an diese völlig unbegründeten Hoffnungen glauben, und deshalb saß ich am Freitagnachmittag in meinem Auto vor Santos’ Laden und versuchte mich davon abzuhalten, an die vielen unbeantworteten Fragen zu denken, die mich seit Wochen quälten. Stattdessen redete ich mir ein, dass alles gut werden würde.
Es war zwanzig nach zwei, und ich war schon seit fast einer Stunde hier. Santos hatte gesagt, dass Justin sein neues Surfbrett am Nachmittag abholen würde, aber da ich nicht wusste, ob das vierzehn Uhr oder siebzehn Uhr bedeutete, ging ich lieber kein Risiko ein. Ich wollte ihn auf keinen Fall verpassen. Nigel hatte ich erzählt, dass ich einen Termin beim Kieferorthopäden hatte, um meine Weisheitszähne röntgen zu lassen. Damit ließen sich mehrere Stunden Abwesenheit erklären.
Aufmerksam beobachtete ich die schmale Straße und sah schließlich einen blauweißen Campingbus um die Ecke biegen, der eine kleine schwarze Abgaswolke hinter sich herzog. Der Bus hielt vor Santos’ Surf-Shop, und Justin stieg aus. Einfach so, ganz unspektakulär.
Ich konnte es nicht glauben. Dort stand er, groß und braun gebrannt, und telefonierte lächelnd mit seinem Handy. In meiner Erinnerung war er zu einem übermenschlichen Wesen geworden, zu einem Mann mit goldener Aura, der wie ein griechischer Gott dahinschwebte und hinter sich Winde auslöste, die kilometerweit die Wettersysteme durcheinanderbrachten. Aber im Nieselregen dieses Freitagnachmittags wirkte er nur wie ein ganz normaler – wenn auch ziemlich gut aussehender – Mann in einem ziemlich schäbigen Pullover.
Ohne Vorwarnung verkrampfte sich alles in mir. Eine große Sehnsucht überkam mich, nicht nach ihm, sondern nach all dem, was er an jenem Abend im Pub und im Ferienhaus vermeintlich verheißen hatte. Wie er jetzt leibhaftig und mit wehendem Haar vor mir stand, waren plötzlich alle Gefühle wieder da, die er bei unserer ersten Begegnung in mir ausgelöst hatte.
Ich saß reglos da, und meine Hände lagen wie festgeklebt am Lenkrad, während ich zusah, wie er ohne jede Eile das Geschäft betrat. Mein Mund war staubtrocken. Jetzt, wo der Moment gekommen war, wusste ich nicht mehr, was ich zu ihm sagen wollte.
Zehn Minuten, die mir wie zehn Jahre vorkamen, verstrichen auf meiner Armbanduhr, bevor er mit einem Surfbrett unter dem Arm wieder herauskam. Ohne mir dessen bewusst zu sein, sprang ich aus dem Auto und näherte mich ihm. Er hatte mich noch nicht bemerkt und fischte in seiner Tasche nach dem Autoschlüssel. »Hallo, Justin«, sagte ich.
Er drehte sich um und lächelte mechanisch.
In der Sekunde oder vielmehr dem Sekundenbruchteil, der verging, bevor er das unbefangene Strahlen aufsetzte, an das ich mich noch so gut erinnerte, sah ich etwas Undefinierbares über sein Gesicht huschen – Schreck, Unmut, vielleicht sogar Panik. In diesem Moment wusste ich, dass dieses Gespräch nicht gut ausgehen würde.
Er schien zu überlegen, ob er zugeben sollte, dass er mich erkannt hatte, oder nicht. Sein Blick schoss von meinem Gesicht zur Straße. Als ihm klar wurde, dass ich allein war und dass sich kein wütender Verlobter in einem Auto oder einem Hauseingang in der Nähe versteckte, entspannte er sich sichtlich und sagte: »Jen, was für eine Überraschung! Was machst du denn hier?«
Es gelang ihm, seine Worte fröhlich und beiläufig klingen zu lassen, aber mir entging nicht, wie fest er das Surfbrett umklammerte.
»Ich wollte mit dir reden«, sagte ich und war bestürzt über den flehenden Klang meiner Stimme. Ich hatte gehofft, mich lässig und beiläufig geben zu können, bis ich herausgefunden hatte, was das alles zu bedeuten hatte. Offenbar war ich dazu nicht in der Lage.
Er zögerte einen Moment, bevor er sein Surfbrett abstellte und den Blick senkte. »Warum bist du dann nie ans Telefon gegangen?«
Für einen kurzen Moment hätte ich ihm beinahe geglaubt. Vielleicht lag es an dem elenden Blick, den er mir zuwarf, der Verletztheit in seiner Stimme. Mein Verstand geriet ins Wanken.
»Ich … Wieso? Du hast mich nie angerufen!«, platzte ich heraus.
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