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Der Preis des Schweigens

Der Preis des Schweigens

Titel: Der Preis des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beverley Jones
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sowie mehrere Packungen Heftpflaster und eine Verbandsrolle enthielten. In der Küchenschublade fand ich genau das Durcheinander an Gegenständen vor, das die meisten Leute in solchen Schubladen aufbewahren: Gummibänder, einen Flaschenöffner, Sammelmarken aus dem Supermarkt, Speisekarten von Lieferdiensten, Schrauben und Nägel in einer alten Tabakdose ohne Deckel.
    Unter all den Sachen entdeckte ich auch ein paar mit Buntstiften gemalte, farbenfrohe Kinderbilder: blaue Wellen, die das Meer darstellen sollten, und Segelboote mit dreieckigen Segeln. Auch ein paar kleine, rechteckige Fotos, wie man sie in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren in Papierumschlägen vom Fotogeschäft zurückbekam, lagen in der Schublade.
    Auf mehreren dieser Fotos war ein streng aussehender Mann in akkurat gebügelten Shorts und kurzärmeligem Hemd zu sehen, vermutlich Michael Mathry, und eine Frau, die offenbar gerne Blümchenkleider trug – Mrs Mathry? Ein Foto zeigte sogar eine deutlich jüngere Version von Gwen und Len mit ihrem Cockerspaniel (wohl eher nicht Ernie, sondern einer seiner Vorgänger). Sie saßen auf ihren Liegestühlen, hatten zwei kleine Mädchen mit Topffrisuren und sonnengeröteten Wangen auf dem Schoß und grinsten in die Kamera.
    Und es gab mehrere Fotos von dünnen, etwa acht- oder neunjährigen Jungen mit wuscheligen Haaren und Hawaii-Shorts, die Fischernetze, Plastik-Tennisschläger oder Schnorchel unter dem Arm trugen oder triumphierend Krabben oder Seesterne in die Kamera hielten.
    Justin?, überlegte ich, aber zwischen den Kindern auf dem Foto und dem Mann von heute lagen zu viele Jahre. Die jungenhaften Körper waren noch dünn und schlaksig und die Gesichter rosig und mädchenhaft rund.
    In dem kleineren Schlafraum mit Stockbett hingen weitere Fotos an der Wand. Auf den meisten war ein etwa vierzehnjähriges Mädchen zu sehen, das hübsch, mager, blass und dunkelhaarig war. Es sah ein wenig verlegen aus, als wollte es nicht, dass man es fotografierte, und trug auf beinahe allen Fotos ein kleines goldenes Kruzifix um den Hals, das in der Sonne funkelte.
    Mager, dunkle Haare … Gwen hatte von einem Mädchen gesprochen, das genau so aussah. Ob das Mädchen auf den Fotos die Pfarrerstochter war?
    In einer Kiste unter dem Bett fand ich eine Mappe aus Pappe mit der Aufschrift »Suzy«, in der noch mehr Fotos lagen. Auf ihnen war wieder das Mädchen zu sehen, das jetzt um die siebzehn sein mochte. Es stand plantschend in der Brandung, die dunklen Haare vom Wind halb über den lachenden Mund geweht, die Augen im bleichen Gesicht scheu zur Kamera erhoben. Oder es saß im Schneidersitz am Strand und versuchte genervt, die Person, die die Kamera hielt, zu verscheuchen. Auf einem Foto stand es barfuß im Sand und zog den Saum seines flatternden Sommerkleids nach unten.
    Zwischen den Fotos klemmten abgerissene Konzerttickets, Geburtstagskarten, Andenken an eine gemeinsame Jugend. Und dann fand ich, wonach ich gesucht hatte: ein Foto, auf dem Justin lächelnd den Arm um das Mädchen legte. Zu dem Zeitpunkt mochten sie in der Oberstufe gewesen sein oder bereits studiert haben. Justin sah natürlich jünger aus und hatte längere und ein wenig dunklere Haare, aber sein dunkelblauer Blick war genauso stechend wie heute. Im Hintergrund war das Meer zu sehen, hinter einem Strand, auf dem der blau-weiße Campingbus stand.
    Ich grinste in die Dunkelheit hinein. »Hallo, Paul Mathry«, flüsterte ich laut, um es mit eigenen Ohren zu hören, um den Klang dieses Namens auf meiner Zunge zu spüren. Aber ich konnte mich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass er Paul hieß. Für mich war er immer noch Justin.
    Ich steckte das Foto ein. Das war zwar riskant, aber es sah nicht so aus, als wäre die Kiste in den letzten Jahren unter dem Bett hervorgezogen worden. Ich brauchte einfach einen Beweis dafür, dass Justin wirklich existierte. Bisher war er fast so etwas wie ein Spuk in meinem Kopf gewesen, eine Fantasiegestalt, die kaum jemand außer mir gesehen hatte und niemand kannte, ein undefinierbares, unberührbares Phantom. Aber jetzt hatte ich ein Foto von ihm und kannte seinen Namen. Ich hatte eine Identität, einen Fixpunkt, und das war um Längen mehr, als ich vorher besessen hatte.
    Von meinem Fund ermutigt setzte ich meine Suche fort. In einem schmalen Schrank im großen Schlafzimmer hingen zwei Sweatshirts und eine Jeans, und im Fach darüber lagen auf ordentlichen Stapeln ein paar T-Shirts, Socken und Unterhosen und

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