Der Preis des Schweigens
seine Identität machen und von ihr ausgehend weiter nach Informationen graben konnte. Nicht nur die Hochzeit rückte immer näher, sondern auch die angekündigte »Oster-Abschlagszahlung«, und wenn diese geleistet war, würde Justin mit Sicherheit auf neue Ideen kommen. Es war also Eile geboten.
An diesem Abend war eindeutig niemand im Wohnwagen. Ich beobachtete ihn nun schon seit einer Stunde und hatte keine Anzeichen für Bewegung entdeckt, kein Licht, das angeknipst wurde, kein blaues Flackern vom Fernseher. Alles war stockdunkel. Ich war froh, dass auf das leichte Schneegestöber der vorletzten Woche sieben Tage trockenes, kaltes Wetter gefolgt waren. Schnee macht die Nächte heller, verändert Licht und Schatten, schluckt verdächtige Geräusche, konserviert Fußabdrücke, und ich wollte aus naheliegenden Gründen so wenige Spuren wie möglich hinterlassen.
Im Wohnwagenpark herrschte nahezu vollkommene Stille. In einem Wagen am hinteren Ende war gedämpftes Licht zu sehen, aber die einzige andere Beleuchtung stammte von den schmuddeligen, in weiten Abständen am Fußweg aufgestellten Laternen und einer trüben Lampe, die vor dem Bürohäuschen brannte.
Ich zog mir die Baseballkappe tief ins Gesicht und schlich leise zum Schuppen der Mathrys, wo ich durch einen Spalt in den Holzplanken spähte. Der Schuppen war mit einem neu aussehenden Schloss ausgestattet, das offenbar regelmäßig benutzt wurde. Aber es stand kein Campingbus darin. Aufmerksam auf Geräusche lauschend schlich ich außen um den Wohnwagen herum und lugte durch das mit Raureif bedeckte Fenster in der Tür. Der dahinter hängende, nicht ganz zugezogene Vorhang gewährte mir Einblick ins Innere. Während ich angestrengt hineinspähte, sah ich mich immer wieder nach plötzlich auftauchenden Personen um, zum Beispiel nach anderen Wohnwagenbesitzern, die ihren Hund spazieren führten.
Wie ich schon bei meinem letzten Besuch festgestellt hatte, handelte es sich beim Wohnwagen der Mathrys um einen mittelgroßen Wagen, der eher einer Hütte glich und nicht dazu gedacht war, herumgezogen zu werden. Ich probierte auf gut Glück die Klinke, aber die Tür war natürlich verriegelt. Auch die Fenster waren alle dicht verschlossen.
Aber der Wohnwagen ähnelte Wendys altem »Schuppen auf Rädern«, und genau darauf hatte ich gezählt.
Ich war nämlich vorbereitet und fest entschlossen, mir Zugang zu verschaffen.
Als ich mir diesen Plan ausgedacht hatte, hatte ich mir eingeredet, dass es streng genommen kein Einbruch war, sondern eine notwendige Maßnahme zur Informationsbeschaffung. Ich würde schließlich nichts stehlen, sondern nur Beweise dafür suchen, dass Paul und Justin wirklich ein und dieselbe Person waren. Und falls dem so war, interessierte mich natürlich, ob Justin hier irgendetwas Kompromittierendes versteckte.
Als am anderen Ende der Wiese lautes Lachen erklang, verließ mich fast der Mut. Offenbar handelte es sich um eine ausgelassene Gruppe Jugendlicher, denn ich hörte eine junge männliche Stimme rufen: »Verpiss dich, du Wichser!« Daraufhin folgten noch mehr Gelächter und das Geräusch einer zu Bruch gehenden Flasche.
Ich kauerte mit krampfhaft zu Fäusten geballten Händen im Schatten des Wohnwagens und überlegte, ob ich zurück zu meinem Auto rennen sollte. Aber nachdem ich ein paar Minuten angespannt gelauscht hatte, kehrte wieder Stille ein. Ich holte tief Luft, zählte rückwärts von zehn bis eins, atmete aus und stand wieder auf.
Was ich vorhatte, war meine einzige Chance. Wenn ich jetzt nach Hause fuhr und aufgab, würde ich vielleicht noch viele Jahre weiterzahlen und beten müssen, dass Justin sein Filmchen nicht trotzdem durch einen einzigen kaltschnäuzigen Mausklick im Internet zur Uraufführung brachte und mein Leben jäh zerstörte. Der Gedanke daran erfüllte mich mit eiskalter Entschlossenheit. Das unverhoffte Wochenende im Aeron Inn hatte mir etwas Wichtiges klargemacht: Es war mein Leben. Ich mochte Zweifel daran haben, ob ich wirklich für immer mit Dan zusammen sein wollte, aber das war ganz allein meine Entscheidung. Justin konnte nicht einfach so auftauchen und beschließen, mir dieses Leben wegzunehmen.
Meine neu erwachte Wut trieb mich an, zumal ich wusste, dass es eine unauffällige und schnelle Möglichkeit gab, in den Wohnwagen zu kommen – falls mein Plan aufging. Als ich vor Jahren mit Wendy und Shirley hier gewesen war, hatte nämlich eine von uns den Schlüssel im Wohnwagen vergessen – wir
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