Der Preis des Verrats (German Edition)
Straße. Mittlerweile hatte ein leichter Wind eingesetzt, der durch die Äste strich. Herbstblätter raschelten in der Luft und knirschten unter den Reifen des Wagens.
Plötzlich huschte etwas vor ihr über die Straße, zwei große Schatten in der Dunkelheit. Caitlyn keuchte und trat mit aller Kraft auf die Bremse. Die Reifen schlitterten über die Blätterdecke und brachten das Auto leicht ins Schleudern, bis es quietschend zum Halten kam. Zwei Hirsche standen starr im Scheinwerferlicht. Schließlich sprangen sie graziös zurück ins Gehölz.
Atme, Caitlyn, schalt sie sich selbst, als die Hirsche verschwunden waren. Sie beschleunigte den Wagen und setzte die Fahrt fort, wenn auch deutlich langsamer. Aber die Ruhe, die sie während des Abends verspürt hatte, war dahin. Wenn sie die Kontrolle über den Wagen verloren hätte, in den Wald geschleudertund gegen einen Baum gekracht wäre, würde irgendjemand überhaupt merken, dass sie fehlte?
Sie war aufs Land gezogen, weil sie die Zurückgezogenheit suchte und Zuflucht vor dem sehr öffentlichen Drama ihrer Familie, aber es gab Zeiten, in denen die Isolation hier draußen ihr zusetzte.
Ich bin noch jung, erst dreiunddreißig, und lebe allein in einem alten Farmhaus wie eine in die Jahre gekommene Jungfer. Nur dass ich statt Katzen Pferde halte , dachte Caitlyn niedergeschlagen. Während des Konzerts, als sie auf der Wolldecke saß, die Sophie mitgebracht hatte, und an ihrem Chardonnay nippte, war ein Mann vorbeigekommen und hatte sie zum Tanzen aufgefordert. Er hatte recht gut ausgesehen, fand Caitlyn, aber sie hatte höflich abgelehnt. Nachher hatte Sophie sie gescholten, und Rob bestand darauf, dass sie mit ihm tanzte, nur um sie aus ihrem Schneckenhaus zu locken. Sie hatte sich von ihm in die tanzende Menge führen lassen. Sophie sah ihnen währenddessen zu. Caitlyn hatte sich fehl am Platz gefühlt, wie ein fünftes Rad am Wagen.
Würde sie sich auf ewig für Joshuas Verbrechen bestrafen? Sich vor anderen Menschen verschließen und von jeder Gelegenheit, ein normales Leben zu führen, zurückziehen? Gedankenverloren umfasste Caitlyn das Steuer fester, als sie den Waldweg hinter sich ließ und das Farmhaus in Sicht kam.
Das Erdgeschoss des Hauses mit der großen Veranda und den schwarz gestrichenen Fensterläden lag im Dunkeln. Aber im oberen Stock drang schwaches Licht aus ihrem Schlafzimmerfenster. Caitlyn fuhr langsamer. Sie hatte das Licht am Abend ausgeschaltet, nachdem sie sich zum Ausgehen fertig gemacht hatte. Sie war sich ganz sicher.
Plötzlich stellten sich die feinen Härchen in ihrem Nacken auf. Ein Schatten bewegte sich hinter einem der geschlossenen Vorhänge des Zimmers.
Einige Sekunden lang starrte sie hinauf zum Fenster, unsicher, was sie gerade gesehen hatte. Die Hirsche hatten ihr bereitseinen Schrecken eingejagt – war der Schatten jetzt nur ein Produkt ihrer blühenden Fantasie? Doch dann kam ihr das Bild von Aggies aufgedunsenem Leichnam in den Sinn.
Ed Malcolm denkt, es war eine Sekte …
Caitlyn schaltete die Scheinwerfer aus und setzte das Auto langsam vom Haus zurück, bis es in den dichten Schatten der Bäume verborgen war.
Sie traf die Entscheidung aus dem Bauch heraus. Nervös und mit unbeholfenen Fingern öffnete sie ihre Handtasche, suchte nach ihrem Handy und dem Stück Papier, auf das Reid Novak seine Nummer notiert hatte.
„Geht es dir gut?“
Reid schaute seine Schwester Megan an, die ihm am Küchentisch gegenübersaß. Sie waren in Megans Haus in Silver Spring, einem Vorort von D. C. Seine Schwester war zwei Jahre jünger als er und hatte dasselbe dunkle Haar und dieselben schiefergrauen Augen wie Reid. Sie ähnelte ihm sehr.
„Ich weiß genau, wenn du etwas auf dem Herzen hast“, fügte sie hinzu und tippte auf einen Punkt an ihrer Stirn. „Du bekommst immer diese Falte, und zwar … hier.“
„Mir geht’s gut. Ich bin einfach ein bisschen zerstreut“, gab er zu. „Ich hab da einen Fall …“
„Ehrlich, Reid. Du bist noch nicht mal wieder im Dienst. Oder?“
Er starrte auf die Reste des Apfelcobblers auf dem Teller vor ihm, dann trank er einen Schluck aus dem Kaffeebecher, den er zwischen den Händen hielt. Während der letzten sechs Monate waren er und seine Schwester fast noch enger zusammengewachsen. Sie hatte ihm geholfen, sich von der Operation zu erholen. In den ersten zwölf Wochen hatte er noch nicht einmal Auto fahren dürfen. Reid wusste nicht, was er ohne sie getan hätte.
„Oh, Gott. Du
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