Der Priester
er sich mit nichts anderem beschäftigen konnte. Nicht einmal mit Siobhan, die immer, wenn er an sie dachte, einen Mahlstrom widersprüchlicher Gefühle in ihm auslöste.
Als Siobhan Fallon an diesem Mittwochmorgen aus Harry Heffernans Büro kam, strahlte sie so fröhlich, dass selbst die abgebrühten Korrektoren aufblickten und sie ansahen. Alle Leute schenkten ihr sehr viel mehr Beachtung. Sie war noch nie so beschäftigt und so bedeutend gewesen wie in den letzten Tagen. Per Telefon war sie in Radiodiskussionen zugeschaltet worden, und diverse Fernsehsender hatten sie vor dem Sunday-Herald -Schild am Haupteingang interviewt – einmal sogar, zum Leidwesen aller Neider im Haus, direkt oben in der Nachrichtenredaktion. Es hatte viel missbilligendes Kopfschütteln gegeben, als das Kamerateam die Lichter aufgebaut hatte. Siobhan hatte die ganze Zeit überlegt, ob es wohl daran lag, dass alle anderen dann im Schatten waren.
Und jetzt hatte Heffernan ihr endlich die einzige Anerkennung zukommen lassen, die für ihn wirklich Bedeutung hatte – und für alle anderen auch, wenn man es genau nahm. Er hatte sie in sein Büro bestellt und verkündet, dass er mit dem Geschäftsführer über die Gehaltserhöhung reden würde, um die sie gebeten hatte. Zwanzig Prozent Minimum, hatte er gesagt. Das war auch das Mindeste. Alan Hanley, der Nachrichtenchef der Irish Times , hatte sich zwischendurch kurz bei ihr gemeldet. Und auch eine Kollegin von der Sunday Tribune hatte gesagt, dass ihr Name gefallen sei, als es um mögliche Abwerbungen von Konkurrenten ging. Wenn es für sie weiter so gut lief, konnte sie sich am nächsten Wochenende den meistbietenden Arbeitgeber aussuchen.
Allein bei dem Gedanken bekam sie weiche Knie, sie fing sich aber wieder und sah sich nach Paddy Griffin um. Er saß mit verschränkten Armen auf dem Schreibtisch des Sportredakteurs Brian Meany, hörte ihm mit einem Ohr zu, ließ sie aber keinen Moment aus dem Auge, als sie aus der Höhle des Löwen herauskam. Sie hob kurz beide Daumen und lächelte noch breiter. Er grinste und quittierte es mit einer kurzen Handbewegung. Mehr Lob, als er ihr diese Woche gezollt hatte, konnte man in so kurzer Zeit von ihm nicht erwarten. Gestern Abend hatte er ihr sogar angeboten, sie zum Abendessen in ein schickes Restaurant einzuladen. Sie musste allerdings ablehnen, weil sie zu Questions and Answers musste, der politischen Diskussionsrunde von RTE . So hochwertige Fernsehtermine hatte sie noch nie gehabt. Und sie hatte stürmischen Beifall geerntet. Das Studiopublikum hatte bei jedem ihrer Worte applaudiert. Außerdem hatte es den Staatssekretär ausgebuht, der das Justizministerium repräsentiert hatte. Selbst John Bowman, der Moderator, hatte sich beeindruckt gezeigt und sie nach der Sendung herzlich beglückwünscht. »Wir würden Sie auf jeden Fall wieder einladen«, hatte er gesagt. Jammerschade, dass die Sendung jetzt eingestellt wurde, wo Siobhan gerade einen Fuß in der Tür hatte.
Trotzdem fühlte es sich nicht so gut an, eine große Nummer zu sein, wie sie erwartet hatte.
Selbst Siobhan war verblüfft vom Ausmaß der öffentlichen Reaktion. Es waren nicht nur die Interviews und Telefonschaltungen in praktisch jede Talkshow bei RTE – und damit konnte man sich weiß Gott zwei Leben lang beschäftigen –, inzwischen war die Geschichte über Irland hinaus in die Welt vorgedrungen. Sky News hatten darüber berichtet und auch die BBC . Sie war sogar von einem spanischen Radiosender interviewt worden, von dem sie noch nie gehört hatte. Aus Erfahrung wusste sie, dass manche Storys ein Eigenleben entwickelten und ihnen Flügel wuchsen. Das passierte immer wieder, wenn ein Kind vermisst wurde oder ein Politiker mit der Hand in der Hose eines Strichjungen erwischt wurde. Aber man konnte nie genau sagen, welche Story wirklich Feuer fing, die Titelseiten eroberte und tage-, wenn nicht wochenlang die Nachrichtensendungen dominierte.
Bei dem Priester hatte sie zwar so ein Gefühl im Bauch gehabt, aber so etwas hatte sie nicht einmal im Ansatz erwartet. Jede Frau in Dublin, egal ob jung oder alt, schien in Panik zu sein, sah sich immer wieder um aus Furcht vor Gott, dem Teufel oder was auch sonst in ihren verdrängten Ängsten und Sehnsüchten lauern mochte. Alle anderen Journalisten in der Stadt, vom bescheidensten Lokalreporter bis zum hochtrabendsten Kulturkommentator, schienen alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Sache noch weiter hochzupuschen.
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