Der Priester
Menschen versündigten, als er selbst sündige.
Siobhan sah auf die Uhr, wollte unbedingt vorankommen, weil sie davon ausging, dass ihr höchstens eine halbe Stunde blieb, bevor der Rest der Meute merkte, wo das Presbyterium war, und sich bis zur Tür durchkämpfte. Der alte Pfarrer sah jetzt schon so aus, als würde er jeden Moment vor lauter Anstrengung in Tränen ausbrechen. Er gab auch sofort zu, dass er besorgt wäre. Ein katholischer Geistlicher sei dieser Tage in Irland schließlich nicht der beste Fürsprecher für einen Mann, den man eines Sexualverbrechens bezichtigte, von Vergewaltigung und Mord ganz zu schweigen. Ganz so naiv war er dann also vielleicht doch nicht.
»Ich bin überzeugt davon, dass die Leute die Meinung eines alteingesessenen Gemeindepfarrers wie Ihnen respektieren«, sagte Siobhan. »Auf jeden Fall werden sie hören wollen, was Sie über Byrne zu erzählen haben. Inwiefern sie das dann glauben, muss man dann wohl ihnen überlassen.«
Sein Lächeln verriet ihr, dass er verstanden hatte, was sie sagte. »Glauben Sie, ich würde ihn hier arbeiten lassen, wenn ich nicht hundertprozentiges Vertrauen in ihn hätte? Er ist ein guter Mann. Sehr freundlich und zuvorkommend. Wenn ich ganz ehrlich bin, allerdings auch etwas schwer von Begriff. Und genau das ist das Problem – seine Freundlichkeit kann manchmal zu Fehlinterpretationen führen.«
»Fehlinterpretationen?«, sagte Siobhan, die sofort ihre Antennen ausfuhr. »Wie genau meinen Sie das, Pater?«
»Na ja, Sie wissen schon, wie beim letzten Mal, als er festgenommen wurde.«
Sie hätte sich fast an ihrem Pfefferkuchen verschluckt, konnte es aber gerade noch durch ein Husten verbergen.
»Entschuldigung, Pater, da muss ich mich etwas verschluckt haben. Was sagten Sie über eine Festnahme?«
»Ja, er wurde festgenommen«, sagte Pater Touhy. »Wegen Missbrauchs an diesem Kind. Eine schreckliche Sache war das.«
»Ein Kind?« Sie versuchte, die Teetasse so behutsam auf die Untertasse zu stellen, dass es nicht klirrte. Obwohl sie allen Heiligen im Himmel dankte, dass sie daran gedacht hatte, ihr Diktiergerät anzustellen, griff sie für alle Fälle nach ihrem Notizblock. Zum zweiten Mal in dieser Woche fragte sie sich, ob sie wohl in die Reihen der Gesegneten aufgenommen worden war. Konnte das Schicksal noch netter zu ihr sein?
»Haben Sie das gar nicht gewusst?«, fragte Pater Touhy sie etwas geziert, wie sie fand.
»Nein, die Polizei hat diese Information noch nicht bekannt gegeben. Das verändert das Gesamtbild dann aber schon ein wenig, finden Sie nicht auch?«
»Ja und nein«, sagte der Pfarrer und rieb sich frustriert die rasierten Wangen, wodurch er weit weniger naiv aussah. »Ich erzähle Ihnen das nicht nur deshalb, weil es sowieso herauskommen wird, sondern weil die Leute wissen sollen, dass er es nicht getan hat. Es war die furchtbare, rachsüchtige Beschuldigung eines jungen Mädchens, das Emmet in Schwierigkeiten bringen wollte und genau wusste, wie man das macht. Zum Glück hat ihre Mutter die Wahrheit herausbekommen, bevor es zu spät war. Gegen Emmet ist nie Anklage erhoben worden.«
»Sie wissen doch, was die Leute sagen werden, Pater«, wandte Siobhan ein und dachte schon, während sie sprach, über den Artikel nach. »›Wo Rauch ist, da ist auch Feuer‹.«
»Deshalb brauche ich Ihre Hilfe«, sagte er, »weil es viel zu einfach für die Polizei sein wird zu behaupten, er hätte ein Geständnis abgelegt.« Er brach ab, rieb sich mit seiner blassen Hand das Kinn und taxierte sie mit seinen kleinen Augen.
»Ein Geständnis abgelegt?« Inzwischen war Siobhan sich nicht mehr sicher, wer hier wen ausnutzte, es interessierte sie aber auch gar nicht richtig. Die Story wurde von Sekunde zu Sekunde besser.
»Ja«, sagte Pater Touhy. »Beim letzten Mal wollten sie die Sache nicht fallen lassen, obwohl die Anklage zurückgezogen worden war. Der Garda, der ihn festgenommen hat, behauptete nämlich, Emmet hätte gestanden. Am Ende kamen sie damit aber nicht weiter, weil er dieses vermeintliche Geständnis abgelegt hatte, bevor sie ihn über seine Rechte aufgeklärt hatten. Sie mussten ihn laufen lassen, auch wenn es ihnen nicht passte.«
»Und Sie glauben, dass sie deshalb …?«, Siobhan wurde immer leiser, hoffte, dass er den Satz für die Aufnahme vervollständigte.
»Ja.« Pater Touhy tat ihr den Gefallen. »Ich bin davon überzeugt, dass sie nur aus diesem Grund wieder bei ihm angeklopft haben – weil sie darauf
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