Der Priester
gesagt hatte.
»Du warst das?« Mulcahy traute seinen Ohren nicht. »Du hast die Überführung des Mädchens organisiert?«
»Nein, nein«, Martinez schnalzte scharf. »Das habe ich gerade erst von Ibañez erfahren. Es war sehr plump, aber sie müssen eine Genehmigung von eurer Regierung gehabt haben, sonst wäre das nicht gegangen. Nein, ich rufe dich an, weil ich dir sagen will, dass ich dich als unseren Verbindungsmann vorgeschlagen habe. Als Ibañez während der gestrigen Telefonkonferenz deinen Namen erwähnte, war ich natürlich sehr überrascht. Aber ich dachte mir sofort, einen besseren Mann können wir nicht auf unserer Seite haben. Ich habe gestern Abend noch versucht, dich anzurufen, du bist allerdings nicht rangegangen, und dann hatte ich viel zu tun und hab’s vergessen. Also entschuldige bitte.«
»Um Himmels willen, Jav«, stöhnte Mulcahy. »Dann häng ich hier ja wochenlang fest.«
»Ja, aber bei unserem letzten Telefonat hast du noch geklagt, wie sehr du dich langweilst.«
»Das ist Monate her.«
»Und seitdem hat sich deine Situation deutlich verbessert?«
Als er auflegte, verspürte Mulcahy einen Hauch mehr Begeisterung für seine neue Aufgabe. Sie hatten darüber gesprochen, wie man am besten mit Salazar senior in Kontakt treten könne, wobei Martinez in dieser Beziehung ähnlich skeptisch war wie Mulcahy. Insgeheim freute sich Mulcahy darüber, dass er Martinez ein bisschen was heimzahlen konnte, indem er ihn nötigte, der Möglichkeit eines Motivs in Jesicas Heimat nachzugehen.
»Ist das nicht ein bisschen viel verlangt?«, hatte Martinez sich beschwert. »Sämtliche Terroristen und Spinner in Spanien, von der ETA bis zu diesen Scheiß-Al-Qaida-Bombern, haben es auf ihn abgesehen.«
»Ganz genau, Jav«, sagte Mulcahy und legte noch einmal richtig nach. »Jetzt komm schon, Mann. Erzähl mir nicht, dass das bei euch noch niemandem in den Sinn gekommen ist.«
»Natürlich ist es das. Aber dann fanden wir das doch ziemlich paranoid. Seine Tochter wurde überfallen, und es hat auch niemand irgendeine Erklärung abgegeben, dass es irgendetwas mit ihm zu tun hätte. Wir glauben, dass selbst die dümmsten Terroristen und Attentäter heutzutage, äh, eine größere Medienkompetenz haben als das.«
In dem Punkt wollte Mulcahy ihm nicht widersprechen, trotzdem ließ er Martinez nicht von der Leine. Dann stürzte er sich mit neuer Energie auf seine Aktenberge. Bisher hatte er nicht viel Neues entdeckt, außer der Tatsache, wie viele Widerlinge und Perverse es in Dublin gab. In den fünf Jahren, die er Ende der Achtziger Streife gegangen war, hatte er es nur mit etwa einem guten Dutzend Fälle von häuslicher Gewalt und ein paar Exhibitionisten zu tun gehabt. Wie alle anderen auch hatte er dann zehn Jahre später natürlich den noch immer nicht beendeten Skandal mit Irlands pädophilen Priestern verfolgt. Tief im Innersten hatte er dabei allerdings vorwiegend eine große Befriedigung dafür empfunden, dass die jahrhundertealte Herrschaft der Kirche über die Seelen und Schuldgefühle seiner Landsleute endlich zerschlagen wurde.
Was er hier las, überstieg jedoch sein Vorstellungsvermögen – und es hatte auch keinen allgemeinen Aufschrei in den Medien nach sich gezogen. Hunderte gebrochener Arme und Rippen, zersplitterter Wangenknochen, von betrunkenen oder anderweitig berauschten Ehemännern oder Vätern krankenhausreif geschlagene Frauen und Kinder. Dazu die Vergewaltiger und Pädophilen aus allen Gesellschaftsschichten – Maurer, Lehrer, Anwälte, IT -Spezialisten, Banker und Geistliche. Dabei hatten sie ihm nur die Fälle vorgelegt, bei denen die Opfer im Zuge des Verbrechens körperliche Schäden erlitten hatten. Sicherlich war diese Welle häuslicher Gewalt nicht einfach aus dem Nichts entstanden. Schließlich hatte der Wirtschaftsboom keinen Aufschwung an Abartigkeit nach sich gezogen. Mulcahy erschrak, wenn er darüber nachdachte, was die Menschen offenbar jahrelang verheimlicht hatten.
Am Ende hatte er keine Wahl. Er musste seinen Abscheu überwinden und die Arbeit fortsetzen. Dabei fiel ihm sofort auf, dass das Ausmaß an Gewalt, mit dem der Täter bei Jesica Salazar vorgegangen war, extrem selten war. Wie auch der Prozentsatz von Überfällen und Vergewaltigungen durch Fremde. Irische Männer ließen ihren Zorn eindeutig am liebsten an ihren Ehefrauen und Geliebten aus, und zwar normalerweise in der Abgeschiedenheit der eigenen vier Wände. Mulcahy fing mit den Fällen an, bei
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