Der Prinz in meinem Maerchen - Roman
geöffnet hätte. Sollte sie sich ernsthaft mit Anna entzweien, dann hätte sie niemanden mehr. Allein zu sein und sexuell enthaltsam zu leben war allein schon zermürbend und deprimierend genug, doch dann noch die einzige wirkliche Freundin zu verlieren, die sie seit der Schulzeit gehabt hatte … Sie war nicht sicher, ob sie das würde ertragen können.
Als es an der Tür klingelte, schreckten sowohl Tarvish als auch sie auf, und Michelle humpelte los, um aufzumachen.
Rory stand vor der Tür, den Kragen seines Mantels hochgeschlagen, die Nasenspitze gerötet. Anders als sonst grinste er heute nicht, als er sie sah, sondern hob nur kurz die Schultern, ohne dabei die Hände aus den Manteltaschen zu nehmen. »Hallo.«
»Hallo! Habe ich eine Verabredung vergessen? Sie wollen heute aber nicht Tarvish abholen, oder?«
»Nein. Ich wollte nur mal vorbeischauen. Vielleicht können wir einen Kaffee trinken und uns kurz unterhalten?« Rory zog eine Augenbraue hoch. »Tut mir leid, ich hätte wohl vorher anrufen und einen Termin ausmachen sollen, aber ich hatte einfach angenommen, dass Sie zu Hause sind. Und jetzt lassen Sie mich bitte rein, es ist lausig kalt!«
»Ein kurzer Anruf wäre tatsächlich nett gewesen.« Michelle zog die Tür weit auf und wünschte sich plötzlich, sich umgezogen zu haben. Sie trug immer noch die Sachen, die sie zur Arbeit angehabt hatte – einen schwarzen Bleistiftrock, der nun mit Hundehaaren bedeckt war, sowie eine Bluse, an der Sabber klebte, wo Tarvishs Kopf auf ihrem Arm gelegen hatte.
»Traurige Nachricht, das mit Cyril, nicht wahr?«, fragte Rory und bückte sich, um Tarvishs bärtiges Kinn zu kraulen. »Ich werde ihn ziemlich vermissen. Dennoch hat er ein ziemlich kompliziertes Testament hinterlassen, deswegen nehme ich an, dass er es uns allen noch zeigen wird.«
»Inwiefern kompliziert?«
Rory schlenderte in die Küche, ohne sich die Schuhe auszuziehen. Wie gewohnt nahm er erst einmal diverse Dinge in die Hand, um sie zu begutachten, bevor er sie an anderer Stelle wieder hinstellte. »Sein Testament erinnert durchaus an Agatha Christie, mit all den einzelnen Hinterlassenschaften und Zuwendungen und dergleichen. Er liebte es, sein Testament zu schreiben, und hat es, wie es scheint, alle paar Jahre neu verfasst.«
»Oh.« Michelle löffelte Kaffeepulver in einen Kaffeebereiter, überlegte es sich dann aber anders und öffnete die Kühlschranktür. »Ist Wein in Ordnung?«
»Perfekt.« Rory setzte sich neben Tarvish und ließ ihn auf seinen Schoß klettern. »Natürlich wird Cyrils Tod Sie mehr als alle anderen betreffen.«
»Warum?« Michelle wusste natürlich genau, worauf er anspielte, wollte aber, dass er es aussprach.
»Sie sind jetzt nicht mehr an seine Jahresklausel gebunden. Obwohl es schon ganz gut war, dass Cyril Ihnen keine Überraschungsbesuche abgestattet hat und ich nicht darauf bestanden habe. Aber ich bin durchaus in der Lage zu erkennen, wann ein Kompromiss angemessen ist.«
Rory sah sie an, und in seinen grauen Augen lag ein herausfordernder Blick – natürlich bezog er sich auf die Bettwäsche, die einen schleichenden Einzug in den Buchladen gehalten hatte. Michelle vermutete, dass er zuvor mit Anna gesprochen hatte. Wahrscheinlich hatten sie sich über sie und ihre Kulturlosigkeit ausgelassen.
Die ruhige Gelassenheit ihres Wohnzimmers wich einer knisternden Spannung. Rorys Tonfall war zwar höflich, doch es war deutlich zu spüren, dass sich dahinter großer Ärger verbarg.
»Jetzt reden Sie nicht um den heißen Brei herum«, forderte sie ihn steif auf und reichte ihm ein Glas Wein. Sie konnten sich ja wohl wie Erwachsene über dieses Thema unterhalten, vielmehr wie ein Anwalt und Mieter, wenn er es denn so wollte. »Wenn es Sie so sehr gestört hat, warum haben Sie dann nichts gesagt?«
»Weil Sie de facto die Einverständniserklärung nicht gebrochen haben. Nichtsdestotrotz bin ich ziemlich enttäuscht von Ihnen.«
»Enttäuscht?«, wiederholte Michelle. »Was bilden Sie sich eigentlich ein, dass Sie enttäuscht sein können?«
In ihrer Zeit als Autohändlerin hatte sie genügend Männer kennengelernt, die frech und unverschämt geworden waren, aber keiner von diesen hatte es mit Rory aufnehmen können. Keiner legte mit einer dermaßen unverfrorenen Selbstgerechtigkeit los wie er. Rory ging einfach über die Wut in ihrer Stimme hinweg.
»Wenn Sie schon Longhamptons einzige Anlaufstelle für nette, intelligente Menschen aufgeben, dann verkaufen Sie
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