Der Prinz von Atrithau
dunkles Violett wirkte wie Schmiere am Horizont und ließ die sinkende Sonne wie die Iris eines wütenden roten Auges aussehen. Da die Priester sich aller Werke, in denen Vorzeichen abgehandelt wurden, entledigt hatten, konnten sie über die Bedeutung dieses Naturschauspiels nur Mutmaßungen anstellen.
Die Luft flimmerte noch immer vor Hitze und rollte wie Wasser über die glutheißen Weiten. Und es war still – sehr still. Ein atemloses Schweigen befiel den Heiligen Krieg. Die Menschen stierten zum Horizont, sahen nervös auf das wutentbrannte Auge und merkten schließlich, dass die Wolken zum Boden gehörten, nicht zum Himmel. Und dann begriffen sie.
Was sie da sahen, war ein Sandsturm.
Mit der trägen Eleganz eines im Wind flatternden Schals rollten ihnen von Westen her enorme Staubwolken entgegen. Die Carathay konnte noch immer hassen. Der Große Durst konnte ihnen noch immer zusetzen.
Die Wucht des Windes riss den Inrithi die Haut auf, und die Böen schienen unzählige rasiermesserscharfe Zähne zu besitzen. Die Männer des Stoßzahns brüllten sich etwas zu, ohne einander zu verstehen. Sie versuchten, etwas zu erkennen, nahmen durch den braunen Schleier vielleicht anfangs auch schattenhafte Gestalten wahr, konnten dann aber nichts mehr sehen. Unter dem schneidenden Wind drängten sie sich zusammen und spürten, wie der Sand stieg und an ihnen sog. Gewaltige Böen rissen ihre Zelte weg, als wären sie aus Papier. Eine neue Dünenlandschaft entstand und begrub herrenlose Wasserschläuche unter sich.
Der Sandsturm tobte bis zum Morgengrauen, und als er nachließ, wanderten die Männer des Stoßzahns wie staunende Kinder durch ein verwandeltes Land. Sie bargen, was sie von ihrem Gepäck retten konnten, und fanden manchen Toten im Sand. Die Hohen und Niederen Herren trafen sich zur Beratung und stellten fest, dass nicht genügend Sonnenschutz vorhanden war, um den Tag über an Ort und Stelle zu bleiben. Sie mussten losziehen – das war klar. Aber wohin? Die meisten sprachen sich dafür aus, zu der Quelle zurückzukehren, die Prinz Kellhus entdeckt hatte. Wenigstens hätten sie Wasser genug, um es dorthin zu schaffen. Der Dûnyain wurde im Rat übrigens noch immer Prinz Kellhus genannt, weil er selbst darauf bestand und viele Ratsmitglieder den Namen Kriegerprophet verabscheuten.
Die von Conphas angeführten Andersdenkenden wandten dagegen ein, die Quelle sei wahrscheinlich vom Sand begraben worden. Sie zeigten auf die Dünen ringsum, die so gleißend in der Sonne lagen, dass sie den Betrachter zu blenden drohten, und beharrten darauf, das Gebiet um die Quelle sei sicher genauso verändert. Wenn der Heilige Krieg sein verbleibendes Wasser verbrauche, um sich von Enathpaneah zu entfernen, und die Quelle dann nicht mehr finde, sei er dem Untergang geweiht. Nach Lage der Dinge, sagte Conphas und verließ sich erneut auf seine Landkarten, sei der Heilige Krieg nur zwei Tagesmärsche von der nächsten Wasserstelle entfernt. Wenn sie jetzt dorthin aufbrächen, würden sie zwar leiden, aber überleben.
Nicht wenige waren überrascht, dass Prinz Kellhus diesem Vorschlag mit der Feststellung zustimmte: »Gewiss ist es besser, Leiden zu riskieren, um den Tod zu vermeiden, als den Tod zu riskieren, um Leiden zu vermeiden.«
Der Heilige Krieg marschierte Richtung Enathpaneah.
Sie ließen das Dünenmeer hinter sich und kamen in ein Gebiet, das einem glühendheißen Teller glich: eine Steinebene, über der die Luft vor Hitze förmlich zischte. Wieder einmal wurde das Wasser streng rationiert. So manchem wurde schwindlig vor Durst, und einige warfen Rüstung, Waffen und Kleidung weg und liefen wie nackte Irre weiter, bis sie ausgedörrt und von der Sonne verbrannt hinstürzten. Die letzten Pferde starben, und die Fußsoldaten, die schon immer wütend darüber gewesen waren, dass ihre Herren sich besser um ihre Pferde als um ihre Männer kümmerten, fluchten im Vorbeigehen und traten Kies nach den Kadavern. Der alte Gothyelk brach zusammen und wurde von seinen Söhnen, die ihr Wasser mit ihm teilten, auf eine selbstgebaute Trage geschnallt. Ganyatti, der Pfalzgraf von Ankirioth, dessen Kahlkopf wie ein blasiger, aus einem zerrissenen Handschuh hervorlugender Daumen aussah, wurde wie ein Sack auf sein Pferd gebunden.
Als die Nacht endlich hereingebrochen war, setzte der Heilige Krieg seinen Marsch nach Süden fort und stolperte wieder einmal über Sanddünen. Die Männer gingen und gingen, doch die kühle Wüstennacht bot
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