Der Prinz von Atrithau
wohl sein«, sagte Achamian.
Über den Ton seiner Stimme erschrocken, sah Esmenet ihn an und stolperte gleich darauf entsetzt rückwärts. Weißes Licht blitzte ihm aus Augen und Mund, und seine Worte klangen, als würde grollender Donner von den Bergen hallen. Dann tauchte zwischen seinen ausgebreiteten Armen eine Linie aus dem Boden auf, die so gleißend war, dass sie schützend die Hände hob. Die Linie schoss schnurgerade himmelwärts, war schon höher als die Unaras-Berge, durchschlug leuchtend die Wolken und verlor sich in der unendlichen Schwärze des Alls.
Der Stab des Himmels!, dachte sie – ein Zauber, den ich aus seinen Geschichten über die Erste Apokalypse kenne.
Schattenhafte Gestalten hetzten in wilder Flucht über die Hänge. Der Blitz schien die Landschaft mit ihren vielen kreuz und quer verlaufenden Höhenzügen und Abgründen allererst ins Leben gerufen zu haben. Esmenet sah eine Kolonne gepanzerter Reiter vor Angst schreien und mit ihren Pferden kämpfen und erblickte erstaunte Gesichter.
»Hör auf!«, schrie Kellhus. »Aufhören!«
Das Licht erlosch, und ringsum war es tiefschwarz.
»Das sind Galeoth«, sagte er und legte ihr die Hand fest auf die Schulter. »Männer des Stoßzahns.«
Esmenet blinzelte und griff sich an die Brust, denn unter den Reitern hatte sie Sarcellus erkannt.
Eine klangvolle Stimme rief durch die Dunkelheit: »Wir suchen den Prinzen von Atrithau! Anasûrimbor Kellhus!«
Vor Kellhus’ innerem Ohr fächerten sich die nuancenreichen Töne dieses Rufs in die verschiedensten Klangfarben auf, die Aufrichtigkeit, Sorge, Wut und Hoffnung signalisierten. Da wusste Kellhus, dass keine Gefahr bestand.
Er ist gekommen, um meinen Rat einzuholen.
»Prinz Saubon!«, rief Kellhus. »Kommt! Gläubige sind an unserem Feuer immer willkommen!«
»Und Hexenmeister?«, rief ein anderer. »Sind Gotteslästerer auch willkommen?«
Die Entrüstung und der Sarkasmus in diesem Ruf waren unüberhörbar, doch die Untertöne wollten sich Kellhus nicht erschließen. Wer hatte gerufen? Sicher ein Nansur, vielleicht aus Massentia, obwohl sein Akzent seltsam schwer einzuordnen war. Ein Adliger von so hohem Rang, dass er einen Prinzen begleiten durfte – ein General des Kaisers?
»Und ob«, rief Kellhus zurück, »sofern sie im Dienst der Gläubigen stehen!«
»Vergebt meinem Freund!«, rief Saubon lachend. »Ich fürchte, er hat nur eine Reithose dabei!« Herzliches Gelächter hallte über die Hänge.
»Was wollen die?«, fragte Achamian leise. Selbst im Halbdunkel konnte Kellhus in der angespannten Miene des Hexenmeisters Spuren seines frischen Schmerzes erkennen, die auf einen Streit mit Esmenet verwiesen.
Einen Streit, bei dem es um ihn, Kellhus, gegangen war.
»Keine Ahnung«, sagte der Dûnyain. »Bei den Beratungen hat Saubon die anderen als Erster gedrängt, ohne die Ainoni und die Scharlachspitzen zu marschieren. Vielleicht will er jetzt, da Proyas ausgeritten ist, neuen Unfrieden stiften.«
Achamian schüttelte den Kopf. »Er war der Ansicht, die Zerstörung von Ruöm drohe die Männer des Stoßzahns zu demoralisieren«, sagte er dann. »Xinemus hat mir erzählt, du hast ihn zum Schweigen gebracht, indem du das Omen des Erdbebens neu ausgelegt hast.«
»Du meinst, er sucht Vergeltung?«, fragte Kellhus.
Doch es war zu spät. Immer mehr Männer kamen im Mondlicht angeritten, saßen ab und dehnten die müden Glieder. Von Fackelträgern flankiert trabten Saubon und sein Gefolge heran. Der Prinz von Galeoth brachte sein mit einer Schabracke bedecktes Ross zum Halten; seine Augen lagen tief im Schatten seiner buschigen Brauen.
Kellhus senkte den Kopf so weit, wie das Jnan es vorschrieb: zu einer Verbeugung zwischen Prinzen.
»Wir sind eurer Spur schon den ganzen Nachmittag gefolgt«, sagte Saubon und sprang vom Pferd. Er war fast so groß wie Kellhus, an Brust und Schultern allerdings etwas breiter. Wie seine Männer war er in voller Montur, trug also nicht nur ein Kettenhemd, sondern auch Helm und Panzerhandschuhe. Hastig hatte man unterhalb des roten Löwen, der aufwändig auf seinen Umhang gestickt war und für das Haus Galeoth stand, noch einen Stoßzahn aufgenäht.
»Und wer ist ›wir‹?«, fragte Kellhus und musterte Saubons Begleiter.
Der Prinz präsentierte ihm einige seiner Männer und begann mit Kussalt, seinem grauhaarigen Berater, doch Kellhus gönnte ihnen kaum einen flüchtigen Blick. Der einzige Tempelritter in seiner Begleitung, den Saubon als Cutias
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