Der Prinzessinnenmörder
der Schule nach Hause gekommen sei. Am Abend schließlich seien sie so verzweifelt gewesen, dass sie bei der Polizei angerufen und Gertraud als vermisst gemeldet hätten. Es gab nicht den geringsten Zweifel, dass es sich bei der Toten um Gertraud Dichl handelte.
Mike schlug vor, bis zum Morgen zu warten. Man müsse die Eltern ja nicht mitten in der Nacht aus dem Bett klingeln, um ihnen zu sagen, dass man die Leiche ihres Kindes gefunden hatte. Wallner entschied, sofort anzurufen. Es lag auf der Hand, dass die Eltern ohnehin nicht schliefen. Einen Moment lang erwog er, den Anruf zu delegieren. Aber es war sein Job, und er wollte auch niemanden hinschicken, ohne vorher angerufen zu haben. Das konnte er um die Uhrzeit nicht machen.
Bereits nach dem ersten Läuten wurde abgenommen. Bernhard Dichl, der Vater, war am Apparat. Dichl nahm die Nachricht vom Tod seiner Tochter schweigend entgegen. Wallner musste sich durch Rückfrage versichern, dass Dichl noch dran war. Im Hintergrund hörte er eine tränenerstickte Frauenstimme, die fragte, ob das die Polizei sei. Dann wollte die Stimme wissen, was die Polizei gesagt habe. Aber Bernhard Dichl bekam keinen Ton heraus. Die Frau wiederholte ihre Frage – jetzt mit Nachdruck. Schließlich schrie sie ihren Mann mit überkippender Stimme an, er solle ihr endlich sagen, was los sei. Es kam zu einem kurzen Tumult, in dessen Verlauf der Telefonhörer offenbar zu Boden fiel. Dann war die Frau dran. Es war zu hören, dass sie heftig weinte, aber versuchte, sich, so gut es ihr noch möglich war, zusammenzureißen. Sie sprach sehr leise und sagte, sie sei die Mutter. Wallner solle ihr bitte sagen, was passiert sei. Wallner sagte es ihr.
Wallner gab Mike den Auftrag, eine Psychologin zu den Dichls zu schicken. Er musste an die frische Luft. Als er versuchte, einen Schluck Kaffee zu trinken, merkte er, dass ihm die Hände zitterten. Er dachte an Manfred und sah auf dem Weg nach draußen kurz ins Wohnzimmer, wo eine junge Kollegin namens Janette seinem Großvater Baldriantee einflößte. Das Zittern wurde stärker, wenn Manfred sich aufregte. In seinem jetzigen Zustand hätte er ohne fremde Hilfe keinen Schluck trinken können. Janettes Fürsorge schien ihm nicht unangenehm zu sein.
Vor der Tür atmete Wallner tief durch, bis die feuchtkalte Luft seine Lungen erfrischt und seinen Kopf klarer gemacht hatte. Er sah nach oben und ließ sich den Schnee aufs Gesicht fallen. Dann ging er zu Lutz in den Schuppen. Der arbeitete immer noch an der Leiche, die man mit einer Plastikplane als Unterlage auf die Werkbank gelegt hatte. Lutz hatte dem Mädchen das goldene Kleid ausgezogen. Es lagerte in einem Plastiksack der Spurensicherung neben der Werkbank und würde später untersucht werden. Wallner sah die kleine Einstichwunde unterhalb des linken Rippenbogens. Die Augen, die Wallner aus dem Schneehaufen heraus angestarrt hatten, waren jetzt geschlossen. Das Gesicht des Mädchens war blass, aber friedlich. Der Körper zeigte erste Ansätze weiblicher Rundungen.
»Das Gleiche wie heute Morgen?«
»Ja, exakt das Gleiche«, sagte Lutz. »Wiss’ ma schon, wer sie is?«
»Sie heißt Gertraud Dichl und kommt von einem Bauernhof bei Mitterdarching. Sie ist dreizehn.«
Lutz betrachtete den leblosen Körper. Ein trauriger Gedanke schien ihm durch den Sinn zu gehen. »Hast schon die Eltern …?«
Wallner nickte. Lutz wusste, dass das kein leichtes Telefonat gewesen war, auch wenn er als Spurensicherer praktisch nie in die Situation kam, solche Gespräche führen zu müssen.
»Da waren doch Krähen an der Leiche. Wieso sieht man nichts?«
Lutz hob eine Schulter der Leiche hoch und drehte den Körper ein Stück zur Wand. Der Rücken wurde sichtbar. Vom Haaransatz bis zu den Schulterblättern hatten die Vögel den Rücken des Mädchens zerfleischt. Allerdings nur in einem Halbkreis um den untersten Halswirbel. Lutz deutete darauf.
»Da war der Rückenausschnitt von dem Kleid. Sie is mit dem Gesicht nach unten g’legen. Wenn s’ am Rücken gelegen wär, tät’s Gesicht anders ausschauen.«
»Wird die Eltern nicht trösten. Hast du ihren Mund untersucht?«
Lutz ging zu einem Werkzeugregal. Dort lag eine kleine durchsichtige Plastiktüte. Er gab sie Wallner. In der Tüte war eine Blechplakette, etwas länger und etwas schmaler als ein Fingernagel. Auf der Plakette stand » 72 «. Ansonsten sah sie ähnlich aus wie jene, die Tina in Pia Eltwangers Mund gefunden hatte. Wallner betrachtete die
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