Der Prinzessinnenmörder
den die Krähen unvermindert veranstalteten. Wallner zog die Taschenlampe, die er beim Hinausgehen eingesteckt hatte, aus dem Gürtel und leuchtete in Richtung der Krähenversammlung. Zwischen dem schwarzen Geflatter war wenig zu erkennen, zumal der jetzt einsetzende Schneeregen die Sicht zusätzlich behinderte. Wallner blickte auf den Boden. Neben seinem Fuß lag ein goldenes Stück Brokat, das irgendwo abgerissen worden war. Wallner ging zur Leiter und kletterte nach oben. Als er knapp unter der Dachrinne angelangt war, hörte er, wie die Krähen, durch sein Kommen aufgescheucht, alle gleichzeitig aufflatterten. Unmittelbar darauf flogen zwei der Vögel an seinem Gesicht vorbei. Dann begann sich der Schnee auf dem Dach in Bewegung zu setzen und flutete mit einem Mal über die Dachkante. Wallner hielt sich im Kampf mit den andrängenden Schneemassen nur mit Mühe auf der Leiter. Der Schnee war nass und schwer und schlug ihm ins Gesicht und gegen die Brust. Wallner sagte sich, die Lawine werde in wenigen Sekunden mangels Nachschub verebben. Doch dann traf ihn etwas Schweres am Kopf. Es landete zwischen Wallners Brust und der Leiter auf Wallners Armen und zog die Leiter zur Seite. Sie kippte, erst langsam, dann schneller. Wallner musste schließlich loslassen und stürzte zu Boden. Zu seinem Glück hatte sich das gesamte Dach seiner Schneelast bereits entledigt, so dass Wallner in einem Haufen Nassschnee aufschlug. Die Leiter fiel neben ihm auf den Boden.
Das Erste, was Wallner sah, als er seinen Kopf aus dem Schneehaufen hob, war Manfred, der mit der Bierflasche in der Haustür stand. Wallner sagte, ihm sei nichts passiert. Doch Manfred schaute nicht zu Wallner, sondern auf etwas neben ihm. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in die Nacht. Die Bierflasche entglitt seiner zitternden Hand und fiel zu Boden. Dann musste er sich am Türstock festhalten. Langsam drehte sich Wallner zur Seite. Er sah einen goldenen Schimmer im Augenwinkel. Seine rechte Hand hielt immer noch die Taschenlampe umklammert. Keinen Meter entfernt blickten Wallner, vom Lichtkegel der Taschenlampe bestrahlt, zwei Mädchenaugen an.
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12 . Kapitel
E s hatte kurz nach Mitternacht angefangen zu schneien. Der Regen hatte sich in nasse Flocken verwandelt, die dicht und schnell fielen. Auf der Straße vor dem Haus parkte ein halbes Dutzend Polizeifahrzeuge, Uniformierte und Beamte in Zivil liefen zwischen den Fahrzeugen hin und her und von den Fahrzeugen in den Hof des Hauses oder aus dem Hof zurück zu den Fahrzeugen, immer in zuckendes Blaulicht getaucht. Stimmen knarzten aus Funksprechgeräten.
Man hatte das Mädchen, nachdem Fotos und Videoaufnahmen gemacht worden waren, zur weiteren Untersuchung in den Schuppen gebracht. Der Schneefall machte jede Arbeit am Fundort unmöglich. Lutz war aus dem Bett geholt worden und untersuchte die Leiche. Mit dem Gerichtsmediziner aus München war in nächster Zeit nicht zu rechnen. Der stand im Stau auf der verschneiten Autobahn, weil sich ein Lastwagen quer gestellt hatte. Die Staatsanwältin befand sich vermutlich ein paar Autos hinter dem Gerichtsmediziner.
Sämtliche SoKo-Mitarbeiter, die nützlich sein konnten, waren zum Tatort bestellt worden. Tina hatte angeordnet, dass Kaffee gekocht wurde, und in der Küche Baldriantee gefunden, von dem man für Manfred eine Kanne voll zubereitete. Wallner hatte verfügt, dass zum Kaffee für alle Mitarbeiter Plätzchen gereicht wurden. Es waren die guten, selbstgebackenen von Manfred. Da Manfred sie mit seinen wackeligen Zähnen nicht mehr essen konnte und Wallner sie nicht essen wollte, hätte man sie Ostern ohnehin heimlich entsorgen müssen. Die Plätzchen fanden nur zögernden Absatz. Aber der eine oder andere echte Kerl mit guten Zähnen fand sich immer in einer Truppe von zwanzig Polizisten.
Wallner stand mit Mike in der Küche. Der Hof vor dem Fenster war mit Hilfe starker Lampen in taghelles Licht getaucht. Tina suchte zusammen mit anderen Kollegen nach Spuren. Inzwischen war alles von drei Zentimetern Nassschnee bedeckt.
Es gebe eine Vermisstenanzeige von heute Abend, 19 Uhr 30 . Ein Ehepaar Dichl, Bauern aus Valley, hätten das Ausbleiben ihrer Tochter gemeldet. Sie sei dreizehn. Das Mädchen, sie heiße Gertraud, sei bereits von der Realschule in Miesbach nicht nach Hause gekommen. Die Dichls hätten den ganzen Nachmittag telefoniert, um herauszufinden, wo ihre Tochter abgeblieben war. Es sei noch nie vorgekommen, dass das Kind nicht von
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