Der Prinzessinnenmörder
Polizeipräsident persönlich bis in entfernte Einzelheiten über alle Untersuchungsergebnisse unterrichtete. Aber immerhin – so viel konnte Kreuthner nach draußen geben: Wenn überhaupt, dann sei dies die letzte Nacht, die die »Bestie vom Spitzingsee« (so die Schlagzeile einer Boulevardzeitung) in Freiheit verbringen werde. Ein oder zwei Informationen würden noch benötigt, um das Mosaik zusammenzusetzen, dann werde man mit aller Härte zuschlagen. Der Bursche halte sich zwar für schlau. Offenbar für unglaublich schlau sogar. In Wirklichkeit aber habe der nicht die geringste Ahnung, was sich über seinem Kopf zusammenbraue. Sie – die Polizeikräfte – hätten heutzutage technische Möglichkeiten, da habe so einer auch nicht die geringste Chance. Das sei in der Öffentlichkeit gar nicht bekannt, zu was sie bei der Polizei alles in der Lage seien. Er könne, das verstehe sich, aus Gründen der Dienstgeheimhaltung nicht deutlicher werden. Nur so viel: CSI sei Kinderkram dagegen.
Wallner setzte sich an den Tresen. Melanie Polcke war nicht da. Ein Mädchen von etwa fünfundzwanzig Jahren mit bestickten, kunstvoll zerrissenen Jeans in Stiletto-Stiefeletten lächelte Wallner an und fragte nach seinen Wünschen. Wallner bestellte einen Glühwein. Ihm war wieder einmal kalt. Er behielt seine Daunenjacke an. Aber ihm war trotzdem kalt. Seitdem das tote Mädchen von seinem Dach auf ihn herabgestürzt war, war eine schreckliche Kälte in sein Innerstes gekrochen. Es war nicht nur sein übliches Frösteln. Es war eine Kälte, die das Mark seiner Knochen durchdrang. Zum ersten Mal, seit er Polizist war, hatte er Angst, dem, was auf ihn zukam, nicht gewachsen zu sein. Morgen, übermorgen oder in zwei Wochen würde er wieder vor einer Leiche stehen und wissen, dass er den Tod des Mädchens hätte verhindern können. Er würde keine ruhige Nacht mehr verbringen, bis der Täter zur Strecke gebracht war. Das konnte Tage dauern – oder Jahre. Oder Wallner würde ins Grab steigen, ohne den Mörder gefunden zu haben.
Wallner versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Versuchte, die Furcht in eine versteckte Ecke seiner Eingeweide abzuschieben. Der Rastkogel kam ihm in den Sinn. Der musste etwas bedeuten. Was, das konnte zum jetzigen Zeitpunkt noch niemand erschließen. Vielleicht hatten die Morde irgendeinen Bezug zu den Bergen. Die Berge … Der Vater von Pia Eltwanger war früher offenbar auf Berge gestiegen. Ebenso wie Herr Dichl, der Vater des zweiten Opfers. Aber das traf auf achtzig Prozent der Bevölkerung des Landkreises zu. Wallner legte sein PDA auf den Tresen und suchte die Nummer der Eltwangers heraus. Frau Eltwanger ging ans Telefon. Sie verneinte Wallners Frage, ob sie Bergsteigerin sei. Sie sei aus Münster gebürtig und habe der Leidenschaft ihres Mannes nie wirklich etwas abgewinnen können. Ihr Mann sei nicht im Haus. Er habe dienstlich nach Mailand fliegen müssen. Sie gab Wallner die Handynummer ihres Mannes. Doch Herrn Eltwangers Handy war ausgeschaltet. Wallner hinterließ, dass er zurückgerufen werden wollte. Der nächste Anruf ging an die Dichls. Bernhard Dichl meldete sich, seine Stimme war schleppend, jeder Satz war ihm hörbar eine Last. Dichl war der Rastkogel nicht geläufig, wenngleich er in früheren Jahren die eine oder andere Bergtour in den Tuxer Alpen unternommen hatte. Auf einem Rastkogel war er, soweit er sich erinnern konnte, nie gewesen. Vielleicht in der Nähe. Wahrscheinlich sogar. Aber wann und wo genau, das entzog sich seiner Erinnerung. Nach seiner Frau gefragt, sagte Dichl, sie sei nicht ansprechbar. Es sei schlimmer geworden mit ihr. Er habe den Notarzt holen müssen, der seiner Frau starke Beruhigungsmittel verabreicht habe. Seine Frau sei wohl früher auch das eine ums andere Mal in die Berge gegangen. Doch mehr hier im Bayerischen, nichts Hochalpines. Berge, die man in einer Tageswanderung besteigen könne. Wallner dankte und beendete das Gespräch. Dann fragte er sich, ob er das richtig verstanden hatte: Herr Eltwanger war einen Tag nach der Ermordung seines Kindes auf einem dienstlichen Termin in Mailand? Wallner nahm einen Schluck Glühwein. Ihm war noch kälter geworden.
»Ihnen geht’s heute nicht so gut?«, sagte jemand. Neben Wallner stand der Pfarrer vom Abend zuvor. Wallner brauchte ein paar Sekunden, bis er sich von seinen Gedanken losreißen konnte.
»Geht so.« Er rückte ein wenig mit seinem Barhocker und bedeutete dem Pfarrer, sich zu ihm zu setzen.
»Ist
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