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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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und es war verhaltener Hass, nicht Liebe herauszuhören.
    »Das wird es auch. Nur nicht so, wie du es dir gedacht hast.« Er lachte. Dann hatte sie das Gefühl, dass er zurücktrat. »Bald«, sagte er. »Denk drüber nach. Sehr bald. Es kann
jede Minute
so weit sein. Und es wird hart, Nummer 4. Es wird nicht das Geringste mit dem zu tun haben, was du dir vorgestellt hast.«
    Dann hörte sie, wie er den Raum durchquerte. Eine Sekunde später noch ein Geräusch, als die Tür auf- und zuging.
    Sie blieb, immer noch nackt, stehen. Lange, wohl mehrere Minuten lang, rührte sie sich nicht vom Fleck. Als die Stille ringsum immer übermächtiger wurde und zu schreien schien, atmete sie tief und langsam und tastete nach ihrer Wäsche. Sie schlüpfte hinein und kehrte aufs Bett zurück. Sie merkte, wie ihr der Schweiß aus den Achseln rann. Es kam nicht von der Hitze, es kam von der Bedrohung. Sie fand ihren Bären und flüsterte ihm zu: »Das geschieht nicht mit uns, Mister Braunbär. Es geschieht mit jemand anderem. Jennifer ist immer noch deine Freundin. Jennifer hat sich nicht geändert.«
    Sie wünschte sich, sie hätte es selber glauben können. Sie begriff, dass etwas in ihr schwankte, hin und her. Ein ständiger Wechsel der Person, die sie war. Sie wusste nicht, ob sie es noch lange ausbalancieren konnte. Sie war dabei, das Gleichgewicht zu verlieren, als drehte sich der Raum außerhalb der Augenbinde. Sie fühlte sich schwindelig und schamrot und hätte schwören können, dass die Hand des Mannes überall an ihrem Körper rote Striemen und Narben hinterlassen hatte. Sie drückte Mister Braunbär an sich.
Wehr dich, so viel du kannst, Jennifer. Das Übrige hat nichts zu bedeuten.
    Sie nickte, wie um ihren eigenen Gedanken zu bestätigen. Dann sagte sie sich in ihrem tiefsten Innern:
Egal, was passiert, es hat nichts zu bedeuten, es hat nichts zu bedeuten, es hat nichts zu bedeuten. Nur eins zählt: Bleib am Leben.

32
    A drian war für den größten Teil des Wochenendes ins Haus eingesperrt – nicht durch Schloss und Riegel, sondern durch seine Krankheit. Er schlief nur selten, und wenn er es tat, quälten ihn lebhafte Träume. Stundenlang lief er ziellos von einem Zimmer zum anderen und blieb nur einmal stehen, um mit Cassie zu reden, die ihm nicht antwortete, oder um Tommy anzuflehen, dass er sich nur ein einziges Mal zeigte, damit er seinen Sohn noch einmal umarmen konnte. Dieser Gedanke jagte ihm unablässig durch den Kopf –
noch ein einziges Mal noch ein einziges Mal noch ein einziges Mal,
doch sein Sohn erhörte ihn nicht, sondern blieb stumm und unsichtbar.
    Als er sich im Spiegel erblickte, glaubte er, einen Schatten vor sich zu haben. Er trug ein Pyjamaoberteil und eine verwaschene Jeans, als sei ihm mitten im An- oder Ausziehen etwas dazwischengekommen. Sein Haar war schweißgetränkt, sein Kinn mit grauen Stoppeln bedeckt.
    Er hatte das Gefühl, als tobte ein heftiger Streit in seinem Innern, bei dem ein Teil von ihm darauf bestand, endlich alles zu vergessen, während der andere ihm ebenso hartnäckig befahl, einen klaren Kopf zu bewahren, seine Gedanken und Erinnerungen unter Kontrolle zu bekommen. Die eine Seite brüllte und zeterte, während die andere ruhig und leise mit ihm sprach. Ab und zu befahl ihm der vernünftige Teil in ihm, etwas zu essen, zur Toilette zu gehen, sich die Zähne zu putzen, zu duschen und sich zu rasieren – all die kleinen Routineverrichtungen im Leben, die jeder für selbstverständlich hält und die für Adrian immer schwieriger und beängstigend kompliziert zu werden drohten.
    Am liebsten hätte er die Verantwortung auf seine Frau abgewälzt. Cassie hatte stets sämtliche Termine für sie beide im Kopf gehabt. Sie hatte ein unglaublich gutes Gedächtnis für die Namen von Leuten, die sie auf Cocktailpartys trafen. Sie hatte Daten, Orte, das Wetter und den Inhalt von Gesprächen mit der Genauigkeit eines Stenographen im Kopf. Ihre Gabe, sich die aus seiner Sicht belanglosesten Aspekte des Lebens auf Kommando zu vergegenwärtigen, hatte ihn immer in Erstaunen versetzt. Ihm selbst schwirrten meist zu viele Zahlen und Messungen aus den jüngsten Laborexperimenten im Schädel herum, dazu Worte und Phrasen für das nächste Gedicht. Es kam ihm so vor, als sei da einfach kein Platz, um sich zu merken, wie die Frau des außerplanmäßigen Professors, die er auf der Jahresabschluss-Grillparty des Instituts getroffen hatte, mit Vornamen hieß, oder auch, wann der Ölwechsel für

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