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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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darüber gestritten haben, was wir machen sollen. Aber jetzt will ich mich nur noch an das erinnern, was großartig und wundervoll und ideal war …«
    Wieder deutete sie zur Seite, und er las aus ihren Augen, dass sie mit ihrer Geduld am Ende war und genug hatte von seinem langen Rechtfertigungssermon. Ihre schwarzen Augen blitzten so wie bei manchem früheren Gewitterdonner um eine Forderung, die keine Diskussionen duldete.
    »Was meinst du?«, fragte er.
    Sie lächelte und warf zum zweiten Mal den Kopf zurück wie bei einem Kind in der Schule, das auf seiner Leitung stand und das Einfachste von der Welt nicht begriff.
    »Was ist …« Er erwiderte ihren fordernden Blick. Und dann sah er, worauf sie zeigte. Das an der Küchenwand angebrachte Telefon. Adrian horchte, und langsam, als drehte jemand den Knopf an einer Stereoanlage lauter, hörte er immer deutlicher das ferne Klingeln. Er griff nach dem Hörer und hielt ihn ans Ohr. »Hallo?«
    »Na, Professor, schon auf meinen Anruf gewartet? Sollen wir uns treffen? Ich hab einige Fortschritte gemacht.«
    Es war der Sexualstraftäter. Unverwechselbare Stimme. Wie dickes Öl, das aus der Erde quillt, musste er denken. »Mister Wolfe.«
    »Was dachten Sie denn?«
    »Haben Sie Jennifer gefunden?«
    »Nicht direkt. Aber …«
    »Also, was gibt’s?« Adrian hatte das Gefühl, dass er unverbindlich hart klang, und fragte sich, woher das kam.
    »Ich denke, Professor, dass Sie mir an dieser Stelle vielleicht helfen wollen. Ich hab ein paar Sachen gefunden …« Er verstummte. Nach einer Weile fuhr er fort: »Also, ich hab ein paar Dinge gefunden, die Sie sich mal ansehen sollten. Und ich denke, Sie müssen sie sich selber hier bei mir anschauen.«
    Adrian spähte zu seiner Frau hinüber. Sie strich sich mit kreisenden Bewegungen über den vorgewölbten Bauch. Sie sah zu ihm auf und nickte eifrig. Sie brauchte nicht ausdrücklich zu sagen:
Geh, Adrian.
»In Ordnung«, antwortete er. »Ich komm rüber.«
    Er legte auf. Er wollte seine Frau umarmen, doch sie zeigte auf die Tür. »Beeil dich«, sagte sie schließlich in melodischem Ton. Er war überglücklich, sie sprechen zu hören. Das Schweigen hatte ihm Angst gemacht. »Von jetzt an musst du dich wirklich beeilen, Audie. Du weißt nicht, wie viel Zeit dir noch bleibt.«
    Er betrachtete ihren Bauch. Er erinnerte sich an die letzten Tage, bevor ihr einziger Sohn zur Welt kam. Sie schwitzte, wusste nicht, wie sie liegen oder sitzen sollte, doch all das, was Grund genug zu Ungeduld und Reizbarkeit gewesen wäre, schien sie irgendwo sicher verschlossen zu haben. Sie litt in der Sommerhitze und wartete. Er brachte ihr immer Eiswasser und half ihr dabei, vom Sessel aufzustehen. Nachts lag er neben ihr und tat so, als ob er schliefe, horchte, wie sie sich auf der vergeblichen Suche nach einer bequemen Stellung von einer Seite auf die andere drehte. Er wusste nicht, wie er ihr sein Mitgefühl ausdrücken sollte, da es keinen Grund für Mitgefühl gab und es sie nur wütend gemacht hätte. Sie setzte ja schon alles daran, ihre eigenen Gefühle unter Kontrolle zu bringen.
    Adrian machte einen Schritt auf sie zu.
    »Du kannst nicht einfach nur die guten Dinge in Erinnerung behalten«, sagte Cassie. »Es gab auch eine Menge schwere Zeiten. Wie nach Brians Tod. Das war schlimm. Du hast wochenlang getrunken und dir selbst die Schuld gegeben. Und dann, als Tommy …« Sie sprach nicht weiter.
    »Wieso hast du …«, setzte er zu der Frage an, die in den letzten Wochen ihres Lebens zwischen ihnen gestanden, die er aber nicht über die Lippen gebracht hatte. Er sah, dass Cassie auf ihren Leib blickte, als sähe sie dort alles voraus und als mischte sich in ihre freudige Erwartung unsägliche Traurigkeit. Und dann dämmerte Adrian, dass
er selbst
sich so fühlte, und zwar jeden Tag und jede Sekunde, ob in seinen klaren oder seinen verwirrten Momenten.
    Es war falsch gewesen, am Leben festzuhalten, nachdem Tommy und Cassie tot waren. Das wäre seine Zeit gewesen. Er hätte ihnen ohne zu zögern folgen sollen. Weiterzuleben war der Ausweg eines Feiglings gewesen.
    Als er sich noch einmal zu Cassie umdrehte, schüttelte sie den Kopf. »Was ich getan habe, war verkehrt«, sagte sie langsam. »Andererseits auch wieder richtig.«
    Das schien ebenso einleuchtend wie widersinnig. Als Psychologe verstand er, dass Trauer einen fast psychotischen, suizidalen Zustand auslösen konnte. Auf seinem Forschungsgebiet gab es eine beachtliche Menge an

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