Der Professor
mein Wort.«
»Können Sie zusehen, wie jemand vergewaltigt wird? Können Sie zusehen, wie jemand ermordet wird?«
»Hatten Sie nicht behauptet, Snuff-Filme existierten nicht?«
Wolfe schüttelte den Kopf. »Ich hab Ihnen gesagt, in der Welt der Vernunft existierten sie nicht. Da sind sie nichts weiter als ein moderner Mythos. In der
irrationalen
Welt dagegen, na ja, da vielleicht schon.« Wolfe holte tief Luft und fuhr fort. »Also, wenn ich je mit diesem Zeug auf dem Computer erwischt würde, falls irgendein Cop, der auf diesem Gebiet arbeitet, das bis zu mir zurückverfolgen könnte, also, dann …«
Er sprach nicht weiter, und auch Adrian brauchte den Satz nicht zu ergänzen. »Nein, ich bin derjenige, der das hier von Ihnen verlangt. Falls es je Folgen haben sollte – falls die Polizei dahinterkommt –, nehme ich das ganz und gar auf meine Kappe.«
»Hundertprozentig?«
»Ja. Und Sie können immer die Wahrheit sagen, Mister Wolfe. Dass ich mich bereit erklärt habe, Sie für Ihre Anleitung und Hilfe zu bezahlen.«
»Sicher, nur dass sie mir das auch abnehmen müssen.« Wolfe murmelte leise vor sich hin, und Adrian beschlich das Gefühl, dass der Vorbestrafte am Rande eines Abgrunds balancierte. Einerseits wusste er, in welche Schwierigkeiten er sich, selbst mit Adrians Rückendeckung, bringen konnte. Andererseits wollte er offensichtlich weitermachen. Die Sites, denen sie sich ab jetzt zuwandten, übten auf den Mann eine Faszination aus, und Adrians Suche nach »Klein-Jennifer« verschaffte ihm eine abstruse Form der Rechtfertigung. Adrian sah diesen Konflikt in der Art, wie sich Wolfe über die Tastatur beugte.
»Also gut, Professor, jetzt betreten wir die Unterwelt.« Seine Stimme war ein wenig angespannt und schrill.
Er drückte eine letzte Taste, und kleine Kinder erschienen auf dem Bildschirm. Sie spielten an einem sonnigen Tag in einem Park. Im Hintergrund konnte Adrian historische Gebäude und Kopfsteinpflaster ausmachen. Amsterdam, tippte er. Mark Wolfe durchfuhr in diesem Moment ein Ruck, eine unwillkürliche Bewegung, die Adrian nur aus dem Augenwinkel heraus mitbekommen hatte. Dann schluckten beide Männer schwer, als klebte ihnen die Zunge am Gaumen, wenn auch aus entgegengesetzten Gründen. »Sieht recht unschuldig aus, nicht wahr, Professor?«
Adrian nickte.
»Gleich nicht mehr.« Der sonnige Tag und der Park lösten sich auf, und stattdessen erschien ein weißer Raum mit einem Bett. »Also, sich das hier anzusehen oder zu besitzen oder auch nur daran zu denken ist absolut verboten«, sagte Wolfe und beugte sich noch eifriger vor.
»Machen Sie weiter«, sagte Adrian und hoffte insgeheim, damit nur Brians Anweisung zu befolgen, auch wenn er einräumen musste, seit einigen Minuten kein einziges Wort mehr von seinem Bruder gehört zu haben. Es schien, als sei selbst der abgebrühte Anwalt von dem, was auf dem Bildschirm erschien, schockiert.
Stundenlang wanderten die beiden Männer durch die Computerwelt, die ihren eigenen Regeln und Moralvorstellungen folgte, indem sie bedenkenlos jene Seite der menschlichen Natur animierte, die in den Lehrbüchern eher klinisch distanziert beschrieben wurde. Dabei gab es wenig, was nicht schon seit Jahrhunderten existiert hätte, nur dass die Logistik, die Lieferform, sich geändert hatte und ebenso die Empfänger. Adrian hätte das, was er zu sehen bekam, verstört, hätte er es nicht mit dem Abstand des Wissenschaftlers betrachtet. Er verfolgte ein klar definiertes Forschungsprojekt, und so fiel alles, was sich vor seinen Augen ausbreitete und nicht zu seiner Theorie über Jennifer passte, automatisch durchs Raster. Mehr als einmal dachte er beim Anblick irgendeiner schrecklichen Ausbeutung von Menschen, dass er sich zum einen glücklich schätzen musste, Psychologe zu sein, und zum anderen, seinen Verstand wie auch sein Gedächtnis auf einmal zu verlieren. Dies bot ihm einen doppelten Schutz gegen Bilder, die dem Grauen ganz neue Dimensionen verliehen und die durch das Sieb seines Gedächtnisses fallen würden, bevor sie zum Albtraum werden konnten.
Den ganzen Tag hindurch bis in den Abend hinein erschien Wolfes Mutter von Zeit zu Zeit im Wohnzimmer, um schüchtern ihre Sendungen einzufordern, wurde von ihrem Sohn jedoch pflichtbewusst in ihr Zimmer zurückgeführt. Irgendwann bereitete er ihr eine kleine Mahlzeit und brachte sie mit dem vertrauten Ritual zu Bett, entschuldigte sich dafür, den Fernseher die ganze Zeit für sich allein in
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