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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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du aller Welt vorführst … würdest du dann nicht auch ein paar Vorsichtsmaßnahmen treffen?«
    »Selbstverständlich«, dachte Adrian. »Mister Wolfe, haben Sie Ahnung von falschen Tattoos? Oder Hollywood-Make-up?«
    Wolfe ging noch einmal nah an den Fernseher heran. Er berührte die Blinddarmnarbe. »Ich hab auch so eine. Sieht genauso aus. Sieht eigentlich ganz echt aus. Aber das soll sie ja auch, nicht wahr?« Er klickte auf die Kapitelüberschrift »Interview 1 mit Nummer 4«.
    Sie sahen, wie die junge Frau näher an die Kamera herantrat. Der Overall stellte die Fragen. Beide hörten sie, wie das Mädchen in die Kameralinse sagte: »Ich bin achtzehn.«
    Wolfe schnaubte. »Dass ich nicht lache. Sie wird gezwungen, diesen Quatsch zu erzählen. Die ist locker zwei Jahre jünger.« Adrian schätzte, dass es unter seinen Bekannten wohl kaum einen zweiten Experten wie Mark Wolfe gab, wenn es darum ging, das Alter von Teenagern richtig einzuschätzen.
    Wolfe klickte auf ein Kapitel mit der Überschrift »Nummer 4 versucht zu fliehen«. Sie sahen zu, wie die junge Frau mit den bloßen Händen bemüht war, sich von dem Halsband und der Kette zu befreien. Genau in dem Moment, als sie ihre Augenbinde wegriss, wechselte der Kamerawinkel, so dass ihr Gesicht nicht zu sehen war.
    »Eine Flucht, na klar«, sagte Wolfe sarkastisch. »Schauen Sie, wie die Hauptkamera ausgeschaltet wird und wir sie nur noch von hinten zu sehen bekommen? Also nicht ihr Gesicht. Da hat jemand genau gewusst, was er tut.«
    Adrian antwortete nicht. Er versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Es war, als schwirrte ihm eine kleine Erinnerung
     durch den Kopf, die nicht stillhalten wollte, so dass er sie genauer unter die Lupe nehmen konnte.
    Wolfe beobachtete, wie die junge Frau zur Tür ging, wobei die Kamera sie von hinten filmte. Plötzlich fiel ein grelles Licht ein, und ein maskierter Mann sprang ins Bild. An dieser Stelle endete das Kapitel. »Als Nächstes kommt ›Nummer 4 verliert ihre Jungfräulichkeit‹, Professor. Ich vermute mal, das ist offenkundiger Sex. Vielleicht eine Vergewaltigung. Wollen Sie das sehen?«
    Adrian schüttelte den Kopf. »Gehen Sie noch mal auf die Hauptkamera zurück.« Wolfe tat es. Das Mädchen mit der Haube über dem Kopf regte sich nicht. Adrian hatte tausend Fragen, die alle darum kreisten, wer so etwas machte und warum und was einen daran reizen konnte, doch er stellte sie nicht. Stattdessen drehte er sich einfach um und studierte Wolfes Gesicht. Der Triebtäter lehnte sich vor und war offensichtlich wie gebannt. Das Funkeln in seinen Augen sagte Adrian eigentlich alles, was er wissen musste. Wenn er eine Zwanghaftigkeit direkt vor seiner Nase hatte, fiel es ihm gewiss nicht schwer, sie zu erkennen.
    Adrian wollte sich abwenden, konnte es aber nicht. Plötzlich hörte er einen ganzen Chor – Sohn und Bruder und Frau –, die ihm alle unterschiedliche Dinge zuriefen, ihn vor allem aber einstimmig mahnten,
genau hinzusehen
. Das Getöse in seinem Kopf nahm stetig zu, bis es aus allen Richtungen hallte. Es erinnerte an eine Situation, wenn viele Zeugen im selben, beängstigenden Moment dasselbe gefährliche Ereignis beobachten – etwa, wie ein außer Kontrolle geratenes Auto eine schmale Straße entlangschlittert – und alle dieselbe Warnung brüllen, nur in verschiedenen Worten und in unterschiedlichen Sprachen, so dass allein die Warnung als solche zu verstehen ist. So heftig toste es in seinem Kopf, dass er sich die Ohren zuhielt, was allerdings nicht half. Sie schrien nur doppelt so laut. Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf den Bildschirm und die junge Frau zu starren, die dort offenbar in der Falle steckte.
    Und während Adrian sie beobachtete, sah er, wie sie blind umhertastete, bis ihr schmaler Arm sich um einen vertrauten Gegenstand legte, den sie an die heftig bebende Brust zog.
    Einmal war ihm ein alter, abgewetzter, zerfledderter Stoffbär aufgefallen, ein Kinderspielzeug, das wenig passend an einem Rucksack baumelte, dasselbe Tier, das jetzt von hilflos zitternden Armen umklammert wurde.

37
    I n Schlappen und Unterwäsche hatte Linda es sich vor den Computerbildschirmen bequem gemacht, um sich einigen dringlichen Aufgaben im Rahmen von Serie Nummer 4 zu widmen. Ihren weißen Schutzanzug hatte sie einfach neben dem Bett auf den Boden geworfen. Sie hatte ihr dunkles Haar hochgesteckt, so dass sie ein wenig wie eine entblößte Sekretärin aussah, die auf die Rückkehr ihres

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