Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
Vom Netzwerk:
Studien vorbereitet.
    Die Arbeit hatte ihn erfüllt, bereichert und immer wieder begeistert – bis mit dem Ruhestand die Erkenntnis dämmerte, dass er über das Thema zugleich sehr viel und sehr wenig wusste. Er verstand, wie und warum zum Beispiel der Anblick einer Schlange bei manchen seiner Versuchspersonen, ausnahmslos Psychologiestudenten, zu einer erhöhten Atem- und Pulsfrequenz, zu Schweißausbrüchen, Tunnelblick und einem Zustand am Rande der Panik führte. Er hatte systematische Desensibilisierungsstudien durchgeführt – indem er die Probanden mit Abbildungen von Schlangen aus dem
National Geographic,
haarigen Plüschversionen und schließlich lebendigen Schlangen konfrontierte –, um zu bestimmen, inwieweit Vertrautheit die Angst reduzierte. Außerdem hatte er sogenannte Flooding-Studien durchgeführt, bei denen er die Versuchspersonen auf einen Schlag einer großen Anzahl des gefürchteten Objekts aussetzte – ein wenig so wie bei Indiana Jones, als er sich im ersten Spielberg-Film in der unterirdischen Schlangengrube befindet. Adrian hatte diese Art von Tests nicht gemocht. Zu viel Schweiß und Geschrei. Er gab den langsameren Studien den Vorzug.
    Sein Bruder hatte – bevor er sich das Leben nahm – oft über Adrians Arbeit gespöttelt. »Im Krieg hab ich gelernt«, hatte Brian einmal zu ihm gesagt, »dass Angst das Beste ist, was uns überhaupt passieren kann. In brenzligen Situationen bewahrt sie einen vor Gefahr, und auch wenn sie manchmal etwas zu laut Alarm schreit, stellt man hinterher fest, dass sie einem mal wieder den Arsch gerettet hat.«
    Auf dem Weg über seinen alten Campus schmunzelte Adrian bei dem Gedanken, wie sehr er die Ausdrucksweise seines Bruders vermisste.
    Im einen Moment konnte Brian wie ein hochkarätiger Philosoph aus Oxford klingen, im nächsten wie ein raubeiniger, mit Flüchen um sich schmeißender Rowdy. Er konnte sein Benehmen auf jeden juristischen Fall abstimmen, den er gerade verhandelte. Brian hatte seine Zeit zwischen zahlungskräftigen Unternehmen und der unentgeltlichen Arbeit für die Union für Bürgerrechte und die Organisation gegen Rassismus aufgeteilt. Hier war es um Todesurteile in ländlichen Gegenden gegangen, bei denen die Angeklagten – von denen nicht wenige zu Unrecht beschuldigt worden waren – kaum eine Chance hatten, dem elektrischen Stuhl zu entgehen, bis Brian auf dem Plan erschien.
    Brian, musste er denken, besaß die bemerkenswerte Fähigkeit, jedem das Gefühl zu geben, er sei einer von ihnen. Aber vielleicht war diese Chamäleongabe ja doch keine so gute Sache, denn eines Tages hatte sich sein Bruder, den er bis dahin für den stärksten Mann auf Erden hielt, die Neunmillimeter an die Schläfe gehalten und abgedrückt. Er hinterließ keinen Abschiedsbrief. Das war nicht in Ordnung, fand Adrian. Er hätte es erklären sollen.
    Adrian hatte sein Leben dem Lösen von Rätseln gewidmet.
Wieso haben wir Angst? Warum verhalten wir uns so, wie wir es tun? Weshalb empfinden wir so, wie wir empfinden? Woher kommt
     die Angst?
Und doch beschlich ihn jetzt, da er nur noch für begrenzte Zeit von seinen rationalen Fähigkeiten zehren konnte, das Gefühl, auf all die großen Fragen in seinem Leben keine Antwort zu wissen, und er hatte eine Krankheit, die es ihm immer schwerer machen würde, Antworten zu finden.
    Adrian lief langsam und bedächtig. Zum Teil diktierte das Alter sein Tempo. Zugleich kramte er, während er versuchte, seinen nächsten Schritt zu planen, in Erinnerungen. »Brian?«, platzte er heraus. »Ich glaube, ich bin hier auf deine Hilfe angewiesen.«
    Zwei Studentinnen drehten sich lächelnd zu ihm um, bevor sie sich wieder auf ihre Handys konzentrierten. Wie Gefährtinnen liefen sie Seite an Seite, unterhielten sich dabei jedoch mit unsichtbaren Freunden.
Gar nicht so viel anders als ich,
fand Adrian.
Nur dass derjenige, mit dem ich telefoniere, tot ist.
    Kleine Studentengruppen schlenderten zwischen den Übungsräumen hin und her, und auf einem fernen Glockenturm läutete es 15 Uhr. Adrian musste daran denken, dass sein Bruder genau um diese Uhrzeit das unplanmäßige Sperrfeuer angefordert hatte, das ihm das Leben retten sollte. Es war eine Geschichte, die Brian gelegentlich nach ein paar Drinks erzählte, bei gedämpftem Licht und in kleiner Runde, weil er eine solche Erfahrung nur mit Menschen teilte, die ihm nahestanden. Die Geschichte handelte von ihrer Patrouille im A-Shau-Tal.
    »Wir waren nur zwei Kilometer von

Weitere Kostenlose Bücher