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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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der Basis entfernt. Das letzte Stück Marsch an einem langen, öden Tag. Wir schwitzten, hatten Durst und waren hundemüde.« Adrian sah sich um. Er rechnete damit, Brian neben sich zu sehen, da die Stimme, die ihm in den Ohren widerhallte, während sie das vertraute alte Erlebnis wiedergab, dicht neben ihm zu sein schien. Doch Brian war nirgends zu sehen. »Mit anderen Worten, Audie, war es der ideale Zeitpunkt und die ideale Situation, um nachlässig zu werden.«
    Zu der Patrouille gehörten zwanzig Mann, und sie waren im Lauf der letzten Woche schon dreimal ohne besondere Vorkommnisse hier entlanggekommen. Brian hatte die Umgebung beschrieben: Rechts, etwa siebzig Meter von der weiten Ebene des Reisfelds entfernt, waren ein paar Hütten und ein Pfad zu dem Dorf links davon zu sehen. Eine Handvoll Bauern arbeitete an diesem frühen Nachmittag auf den Feldern.
    Es war ein vertrauter, friedlicher Anblick – alles war absolut normal.
    Wenn Brian die Geschichte erzählte, wiederholte er diesen Umstand mindestens dreimal. Normal. Normal. Normal. Das Wort war ihnen wie ein Fluch erschienen. Sie waren hundemüde, sie wollten zur Feuerbasis zurück, etwas essen, sich ausruhen, vielleicht ein bisschen waschen. Es gab, erzählte er später seinem Bruder, nicht den geringsten Grund anzuhalten.
    Doch an diesem Tag – Brian würde nie vergessen, dass es ein Donnerstag war – tat er genau das. Die Männer, die er anführte, ließen sich auf den Boden fallen, 22 Kilo Marschgepäck und 43 Grad Hitze zehrten an der Entscheidungskraft, kommentierte sein Bruder gerne.
Vielleicht wäre das ja mal ein interessantes Studienprojekt,
fügte er bisweilen hinzu. Es gab einiges Murren – oft ist es ermüdender anzuhalten, als weiterzugehen, wenn man erschöpft ist. Missmutig holten die Männer die letzten Tropfen aus ihren Feldflaschen heraus und rauchten eine Zigarette, während Brian sein Fernglas auf die Baumgruppe richtete. Er hatte sich ganz darauf konzentriert und die Linsen langsam über jede Form und jeden Schatten schweifen lassen. Er hatte nichts gesehen. Absolut nichts. Und sich danach nur noch schlimmer gefühlt.
    »Audie, manchmal merkst du es einfach. Wenn alles in Ordnung scheint und es nicht ist. Und genau dieses Gefühl beschlich mich an diesem Tag. Es war alles dermaßen normal, dass es zum Himmel stank.« Also hatte Brian auf seiner Gitterkarte die ganze Baumgruppe kartographisch erfasst und die Koordinaten der Feuerbasis durchgegeben, nachdem er den Artillerieoffizier belogen und ihm gemeldet hatte, er habe in den Bäumen Bewegung gesehen.
    Die erste Salve traf zu kurz, tötete zwei Bauern und hob einen Wasserbüffel buchstäblich in die Luft. Brian ignorierte diese beiden Morde und gab über Funk völlig unaufgeregt die Korrektur durch, woraufhin Sekunden später Sprenggranaten durch den Dschungel flogen. Die Erde bebte. Die Luft war von dem saugenden Geräusch niedergehender Granaten erfüllt. Die Explosionen zerrissen die Baumgrenze in Fetzen und schickten einen tödlichen Regen aus Holz- und Metallsplittern in den Himmel. In wenigen Minuten war das Sperrfeuer vorbei.
    Die Männer des Zugs hatten keine große Lust, den Schaden zu inspizieren, doch genau das befahl er ihnen. Sie waren stumm an den Leichen der Bauern vorbeigelaufen. Glitzernde Eingeweide und Körperteile lagen über die grünen Triebe der sprießenden Reispflanzen verstreut. Das Wasser vermischte sich mit Blut. Soeben erschienen Menschen aus dem Dorf, und die ersten fernen Verzweiflungsschreie flirrten in der Hitze des Nachmittags. Und dann waren sie an einem Albtraum angelangt.
    Dort an der Baumgrenze musste mehr als eine Kompanie der nordvietnamesischen Armee auf sie gewartet haben, genau an der Stelle, an die Brian das Artilleriesperrfeuer dirigiert hatte. Wohin das Auge blickte, stießen sie auf Leichen und Leichenteile. Sie waren zerfetzt, hingen in Baumstümpfen fest. Köpfe. Arme. Beine. Zerrissene Torsos. Unverkennbar von den Treffern einer 75-Millimeter-Haubitzengranate bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Soldaten – eine in Blut getränkte Landschaft. Ein paar Verwundete stöhnten. Andere hatten sich vielleicht tiefer in den Dschungel hineingeschleppt – ob sie sich neu formieren oder nur sterben wollten, konnte Brian nicht sagen. Es war ihm auch egal.
    Keiner seiner Männer sagte etwas. Ein paar leise Pfiffe durch die Zähne, hier und da keuchender Atem, während sie durch die Blutlachen liefen. Sie folgten einfach Brians

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