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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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selbst die kleinste Regung von Nummer 4 staunenswert. Ein bisschen fühlte er sich wie auf einem Logenplatz im Theater – kaum waren die Lichter ausgegangen und hatten die Darsteller die Bühne betreten, war er an seinen Sitz gebannt.
    Als er in seine Straße einbog, kam ihm eine seltsame Erinnerung in den Kopf: wie seine Mutter, den Rosenkranz in der Hand, geduldig am Bett seines sterbenden Großvaters saß und Stunde um Stunde, Tag für Tag unablässig Gebete sprach. Er war noch klein gewesen, höchstens neun Jahre alt, und eine seiner Tanten hatte ihn in den dunklen, stillen Raum geführt. Er wusste noch, wie sie ihn mit fester Hand von hinten ans Bett geschoben hatte. Er erinnerte sich an den langsamen, rasselnden Atem seines Großvaters und daran, wie durchscheinend seine Haut ausgesehen hatte, als er die Hand ins Licht hielt, um ihm seinen Segen zu erteilen.
    Es war seine erste Begegnung mit der Sterblichkeit gewesen, und er hatte geglaubt, all die
Gegrüßet seist du, Maria
und die Akte der vollkommenen Reue, die seine Mutter mit ihrer leisen, sonoren Stimme murmelte, hätten dem sterbenden alten Mann gegolten. Doch jetzt, nach so vielen Jahren, wusste er es besser. All die Gebete waren für die Lebenden gewesen.
    Nummer 4 hatte Gebete nötig, dachte er. Sie war darauf angewiesen, dass er »Vater unser, der du bist im Himmel …« murmelte und es viele Male wiederholte, während er sie auf dem Monitor betrachtete.
    Vielleicht würden die Worte sie beide trösten.
    Selbst in der Dunkelheit, die sie umfing, versuchte Jennifer, sich ein Bild davon zu machen, wo sie sich befand. Sie wusste, dass sie in einer Art Kellerraum war, und sie wusste, dass sie aus irgendeinem Grund am Leben gelassen wurde. Sie wusste auch, dass nichts in ihrem sechzehnjährigen Leben sie auf das, was hier mit ihr geschah, vorbereitet hatte. Dann wieder hoffte sie, dass sie sich irrte.
    Sie verschränkte die Finger auf dem Schoß, dann spreizte sie langsam die Arme und ballte die Hände zu Fäusten. Wenn sie sich an die Realität hielt – das Bett, die Kette, das Halsband, die mobile Toilette –, konnte sie in ihrem Kopf ein etwas verzerrtes Bild ihrer Umgebung zeichnen. Wenn sie ihrer Phantasie jedoch erlaubte, sich auszumalen, was mit ihr passieren würde, überwältigte sie unsägliche Angst. Sie war ständig kurz davor, in Tränen auszubrechen oder sogar vor Panik ohnmächtig zu werden. So schwankte sie unablässig zwischen Vernunft und Agonie.
    Innerlich sagte sie immer wieder:
Ich bin am Leben, ich bin am Leben.
In diesen gefassten Momenten versuchte sie, die Ohren zu spitzen und ihren Geruchssinn zu schärfen. Der Tastsinn, schätzte sie, war von begrenztem Nutzen, konnte ihr aber vielleicht auch noch weiterhelfen.
    Sie saß auf der Kante des Bettes. Unter den Füßen fühlte sie den kalten Zement des Bodens. Ihr knurrte der Magen, auch wenn sie nicht wusste, ob sie etwas herunterbringen könnte. Erneut hatte sie schrecklichen Durst, doch sie wusste nicht, ob sie den Mut hätte, noch einmal Wasser zu trinken – selbst wenn ihr welches angeboten würde. In dem Raum war es bis auf ihren Atem vollkommen still.
    In Wahrheit, sagte sie sich, gab es zwei Räume, den schwarzen im Innern ihrer Binde und den, in dem sie gefangen war. Sie wusste, dass sie über beide so viel wie möglich in Erfahrung bringen musste. Denn wenn sie es nicht tat – wenn sie einfach darauf wartete, was mit ihr passierte –, blieb ihr nur die Verzweiflung.
    Und das Warten auf
das Ende,
wie auch immer es aussehen würde.
    In jeder wachen Sekunde kämpfte Jennifer gegen die Panik an. Sie machte sich klar, dass es nichts brachte, in Gedanken um das zu kreisen, was geschehen war, es sei denn, sie versuchte sich die beiden Menschen, die sie auf der Straße in ihrem Viertel gekidnappt hatten, im Geiste vorzustellen. Doch wenn sie sich ins Gedächtnis rief, wie sie an diesem Frühlingstag im letzten Abendlicht an einem Ort, den sie seit ihrer frühesten Kindheit kannte, auf dem Bürgersteig entlanglief, stürzte es sie in eine schwärzere Finsternis als das Dunkel unter ihrer Haube.
    Sie war aus allem herausgerissen worden, was sie kannte, und bei der Erinnerung daran, woher sie kam, stand ihr fast das Herz still. Ihr wurde schwindelig, doch sie bestand darauf, sich zu konzentrieren. Darüber hatten sich die Lehrer an der Schule, die sie so sehr hasste, ständig beklagt:
Jennifer, du musst dich auf den Stoff konzentrieren. Du wärst so eine gute Schülerin,

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