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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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wirkte alles langsam, beinahe gemächlich. Er drehte sich wieder zu der Stelle um, an der er Tommy gesichtet hatte, und versuchte ihm zuzurufen:
Geh in Deckung!
Doch Tommy stand ungeschützt im Freien. Adrian versuchte, zu ihm zu laufen; er hatte den vagen Wunsch, sich über seinen Sohn zu werfen und von dem, was über ihm niederging, abzuschirmen, doch seine Beine bewegten sich nicht.
    »Tommy«, flüsterte er. Er sah, wie die kleinen Staubblumen auf ihn zurasten. Er wusste, dass es sich um Kugeln handelte, die in direkter Linie der Warthogs aus einer fünfzig Meter entfernten Hütte kamen. Wenn sie doch nur ein wenig schneller gewesen wären, dachte Adrian. Wenn nur die Piloten ein, zwei Sekunden früher geschossen hätten.
Wenn nur …
Die Linie der Kugeln näherte sich unerbittlich seinem Sohn. Adrian sah zu, wie Tommy seinen eigenen Tod mit der Kamera festhielt. Er ereilte ihn, Bruchteile von Sekunden bevor die Hütte in einem Flammenmeer aufging.
    Die Zeit,
dachte Adrian,
war zu grausam
. Er hob die Hände ans Gesicht, um all die Bilder, die auf ihn einstürmten, daran zu hindern, in sein Blickfeld zu treten und sich seiner Vorstellungskraft zu bemächtigen. In der plötzlichen Dunkelheit verebbten all der Lärm und der Aufruhr wie das Ende eines Liedes im Radio, und als er die Augen aufmachte, war er wieder allein, in der Stille seines Arbeitszimmers, umgeben von Büchern, die von Mord handelten.
    Adrian hatte das Gefühl, als sei er gerade ein wenig gestorben.
    Er wollte etwas zu seinem Sohn sagen. Er sah sich nach Cassie um, doch sie war nicht da. Einen Moment lang dachte er, sein Gehör hätte unter der Wucht der Explosionen Schaden genommen; er hörte einen Klingelton. Er hielt an, wurde immer lauter, bis es so schmerzhaft war, dass er schreien wollte, doch dann merkte er plötzlich, dass es an seiner Haustür läutete.

17
    S ie war eingeschlafen. Sie wusste nicht, für wie lange –
Minuten? Stunden? Tage
? Doch von dem weinenden Baby wachte sie auf.
    Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Es war ein schwaches Geräusch, aus weiter Ferne, und sie brauchte eine Weile, bis sie wusste, was es war.
    Sie drückte Mister Braunbär fest an die Brust und drehte den Kopf zuerst in die eine, dann die andere Richtung, um festzustellen, woher das Heulen kam. Es schien eine ganze Weile zu dauern, dann hörte es plötzlich auf. Sie fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Jennifer hatte nicht viel Erfahrung mit Babysitten, und sie war ein Einzelkind, daher beschränkte sich ihr Wissen über kleine Kinder auf die Instinkte, die jeder in sich hat.
Nimm das Baby hoch. Wiege das Baby. Füttere das Baby. Lächle das Baby an. Leg das Baby zum Schlafen wieder in sein Bettchen.
    Jennifer wagte kaum, sich zu bewegen, um nicht das Geräusch zu übertönen. Der Laut eines Babys – selbst eines unglücklichen Babys, das sich Gehör verschaffen will – weckte bei ihr gemischte Gefühle. Es hatte etwas zu bedeuten, und sie versuchte, es herauszubekommen, zwang sich, analytisch, planvoll, logisch und scharfsichtig zu denken.
    Sie kämpfte den Rest Schläfrigkeit herunter. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie das Schreien nur geträumt haben könnte. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie sicher war.
Nein, es war real.
Aber etwas anderes stimmte nicht. Sie schüttelte den Kopf, zwischen den Erinnerungen an ihre Albträume beschlich sie ein seltsames Gefühl.
Was ist es? Was ist es nur?
, hätte sie am liebsten laut geschrien. Etwas war anders.
    Sie spürte es. Ihr stellten sich die Nackenhaare auf, ihr Atem kam stockend und flach. Sie schnappte nach Luft, als hätte sie ein Stromschlag getroffen. Und sie schrie. Der Klang ihrer eigenen Stimme hallte durch den Raum und erschreckte sie noch mehr. Sie zuckte. Ihr zitterten die Hände. Ihr Rücken versteifte sich. Sie biss sich auf die spröden, rissigen Lippen.
    Die Haube war verschwunden.
    Doch sie war immer noch im Dunkeln. Zuerst nahm sie an, sie könnte sehen und im Zimmer sei es dunkel. Dann wurde ihr klar, dass sie sich täuschte. Etwas anderes bedeckte ihre Augen.
    Sie war verwirrt. Sie begriff nicht, wieso sie so lange gebraucht hatte, um zu merken, dass die Haube ersetzt worden war. Es musste einen Grund für den Wechsel geben, doch sie konnte nicht sagen, welchen. Sicher war es wichtig, doch warum, konnte sie nicht sagen.
    Sie lehnte sich langsam zurück und hob die Hände ans Gesicht. Sie berührte ihre Wangen, dann die Augen. Nichts weiter als ein Tuch aus

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