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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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wie ein Stich, der von der Brust in den ganzen Körper ausstrahlte. Sie begriff, dass sie gefangen gehalten wurde, doch Art und Aussehen ihres Gefängnisses waren für sie unsichtbar.
Selbst die schlimmsten Mörder, die für immer im Gefängnis sind, wissen wenigstens, wieso.
Ihr kam eine Szene aus einem Film in den Sinn, den sie irgendwann einmal gesehen hatte – weder an den Titel noch an die Schauspieler konnte sie sich erinnern, nur daran, wie ein Gefangener für jeden Tag, der verging, einen Strich in die Wand seiner Zelle ritzte. Selbst dazu war sie nicht imstande. Wissen, Orientierung, begriff sie, waren hier Mangelware. Ihr wurde systematisch verweigert, die Situation, in der sie sich befand, zu begreifen. Die Frau hatte gesagt, sie solle
gehorchen
. Doch bisher hatte sie noch niemand aufgefordert, irgendetwas zu tun.
    Je mehr sie über das alles nachdachte, desto nervöser bohrte sie die Finger in Mister Braunbärs abgewetztes Fell. In gewissem Sinne war er das Einzige, das ihr von ihrem Leben bis zu dem Moment, als die Tür des Lieferwagens aufging und der Mann auf sie einschlug, geblieben war. Sie befand sich fast nackt in einem Raum, den sie nicht sehen konnte. Es gab eine Tür, das wusste sie. Es gab eine Toilette. Das wusste sie auch. Irgendwo gab es ein Baby. Der Boden bestand aus Zement. Das Bett quietschte. Die Kette an ihrem Hals straffte sich bei zwölf Jennifer-Schritten nach rechts oder links. Es war heiß.
    Sie war am Leben, und sie hatte ihren Teddybären. Jennifer holte tief Luft.
Also gut, Mister Braunbär, da fangen wir an. Du und ich. So wie es schon die ganze Zeit war, seit Dad gestorben ist und uns mit Mom allein gelassen hat.
    Zum ersten Mal fragte sich Jennifer, ob jemand nach ihr suchte. Genau in dem Moment, als ihr dieser Gedanke kam, hörte sie wieder das Baby schreien. Einen einzigen, schrillen, verzweifelten Schrei. Dann herrschte erneute Stille, und sie war mit Mister Braunbär allein. Auch wenn sie sich dessen nicht bewusst war, half ihr der Laut, da er sie von der schrecklichsten Frage ablenkte, die sich ihr ins Bewusstsein bohrte:
Wie soll irgendjemand wissen, wo er nach mir suchen soll?
     
    »Ich spiel’s noch einmal ab«, sagte Michael. Er fummelte an der Hauptkamera herum. Das Trackingsystem funktionierte nicht ganz so, wie es sollte. »Wollen’s nicht übertreiben. Nur ein bisschen …«
    Linda drückte ein paar Tasten auf dem Board. »Bist du sicher, dass sie es hören kann?«
    »Klar, absolut. Sieh dir an, wie sie den Kopf bewegt. Und ob sie es hört!«
    Linda beugte sich über die primäre Eingabekamera. »Du hast recht«, sagte sie. »Bist du sicher, dass es auch die Klienten hören können?«
    »Klar. Aber die müssen sich genauso anstrengen, um zu raten, was Sache ist.«
    Linda schmunzelte. »Du machst es ihnen nicht gerne leicht, stimmt’s?«
    »Ist nicht mein Stil«, sagte Michael lachend. Er verschränkte die Hände im Nacken und räkelte sich, wie es jeder Bürohengst in einem großen Unternehmen nach allzu vielen Stunden vor dem Computerbildschirm tut. »Ich sag dir, die lieben es, wenn Nummer 4 so schreit wie eben. Das macht es umso
realer
für sie.«
    So seltsam es war, empfand Michael für die vielen Subscriber von Whatcomesnext.com so etwas wie Verachtung. In seinen Augen war ihre Faszination eine Art zwanghafte Schwäche, auch wenn er nur allzu gerne ihr Geld nahm und sie mit dem versorgte, was sie haben wollten. Für ihn war klar, dass sie nur ihre eigene Unzulänglichkeit offenbarten, indem sie sich in den von ihnen beiden kreierten Phantasien ergingen. Da waren Tausende von Leuten, die für einen medialen Konsum der besonderen Art teures Geld bezahlten, weil sie armselige Kreaturen waren, einsame Männer, die selber kein Leben hatten und sich zum Ersatz auf die Geschichten einließen, die er ausbrütete.
    Linda dagegen verschwendete kaum einen Gedanken an ihre Klientel – jedenfalls nicht so wie Michael. Für Linda waren sie keine Menschen mit dunklen Leidenschaften, die sie zu ihrer Website trieben, sondern nur eine lange Liste Accounts in einer langen Liste von Ländern. Zahlreiche Kreditkartenabbuchungen. Sie rechnete wie eine Geschäftsfrau – soundso viele Subskriptionen hießen soundso viele Dollar auf den Offshore-Strohmannkonten, die sie zu diesem Zweck eingerichtet hatte. Sie dachte selten daran, wer da draußen saß und ihnen zusah – außer um über Zahlen zu brüten oder dafür zu sorgen, dass Michael mit dem Programm die richtig

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