Der Professor
als sie hörte, wie die Tür aufging. Linda trat auf eines der X, die Michael mit Kreide auf den Boden gemalt hatte. Als Michael die Richtung der elektronischen Kamera änderte, hörte sie ein schwaches Surren. »Still sitzen. Nicht bewegen«, sagte Linda. Anschließend wiederholte sie denselben Befehl auf Deutsch, Französisch, Russisch und Türkisch.
Ihre Sprachkenntnisse waren dürftig. Sie hatte einige Phrasen, einige Schimpfwörter auswendig gelernt, da sie ihr von Zeit zu Zeit ganz gelegen kamen. Sie wusste, dass sie eine schlechte Aussprache hatte, doch das machte nichts. Wenn sie Englisch sprach, sprengte sie von Zeit zu Zeit britische Ausdrücke ein. Natürlich würde sich ein versierter Ermittler, der über Spracherkennungssysteme verfügte, von solchen kleinen Manövern nicht täuschen lassen. Doch Michael hatte ihr versichert, die Wahrscheinlichkeit, dass eine so hochkarätige Polizeibehörde sie verfolgte, sei äußerst gering. Michael – der ewige Student – hatte sich gründlich mit den Zuständigkeitskonflikten befasst, die alle ihre Internetdramen im Ernstfall auslösen müssten. Er war zuversichtlich, dass keine Behörde wirklich die Geduld aufbringen würde, sich das, was sie machten, genauer anzusehen. Sie operierten in der grauesten aller Grauzonen.
»Nach vorn blicken. Hände an die Seite.« Wieder gab sie ihre Befehle in mehreren Sprachen, die sie ein wenig durcheinanderbrachte. Einige Worte hatte sie bestimmt falsch in Erinnerung. Egal. »Ich stelle dir ein Tablett auf den Schoß. Wenn ich es dir erlaube, kannst du essen.«
Nummer 4 nickte.
Linda trat seitlich ans Bett und stellte das Tablett ab. Sie wartete. Sie registrierte, dass Nummer 4 zu zittern begonnen hatte und dass sich ihre Muskeln verkrampften.
Das muss schmerzhaft sein,
dachte sie.
Doch Nummer 4 schwieg weiter standhaft und befolgte, abgesehen von unwillkürlichen Regungen aus Angst, jeden Befehl. »Gut«, sagte Linda. »Du darfst essen.«
Sie achtete darauf, keine Kamera zu verdecken. Sie wusste, die Kundschaft würde von dem simplen Vorgang, dass Nummer 4 gefüttert wurde, fasziniert sein. Deshalb erfreuten sich ihre Webcasts solcher Beliebtheit: Sie nahmen die einfachsten, gewöhnlichsten Alltagsvorgänge und machten etwas
Besonderes
daraus. Wenn jede Mahlzeit für Nummer 4 die letzte sein konnte, bekam sie eine völlig neue Bedeutung. Die Zuschauer verstanden das – und es zog sie unwiderstehlich in ihren Bann. So ungewiss, wie das Schicksal von Nummer 4 erschien, wurden die gewöhnlichsten Dinge unwiderstehlich. Das war das Geniale an ihrem Konzept.
Sie sah zu, wie Nummer 4 die Hände auf das Tablett legte und die Schale, die Orange und die Wasserflasche entdeckte. Sie griff zuerst nach dem Wasser und trank gierig und hingebungsvoll. Ihr wird davon schlecht werden, dachte Linda, sagte aber nichts. Sie sah zu, wie Nummer 4 langsamer wurde, als würde ihr bewusst, dass sie sich noch einen Schluck für das Ende der Mahlzeit aufheben sollte. Danach ertastete sie die Schale mit dem Brei. Sie zögerte und fingerte auf dem Tablett nach einem Löffel. Als sie keinen fand, machte sie den Mund auf, als wollte sie eine Frage stellen, überlegte es sich aber anders.
Sie lernt schnell. Nicht übel.
Nummer 4 hob die Schale an den Mund und fing an, den Haferbrei herunterzuschlürfen. Zuerst ging sie zögerlich heran, doch nachdem sie erst einmal gekostet hatte, schlang sie den Rest herunter und leckte die Schale aus.
Nette Geste,
dachte Linda.
Die Zuschauer werden das mögen.
Sie war immer noch nicht vom Bett gewichen. Doch als Nummer 4 sich daranmachte, die Orange zu schälen, um an das Fruchtfleisch zu kommen, zog Linda langsam die Magnum Kaliber 357 aus dem Schutzanzug. Sie versuchte, ihre Bewegungen auf die von Nummer 4 abzustimmen, so dass die Waffe im selben Moment erschien, in dem Nummer 4 in die Orange beißen wollte.
Sie hob die Waffe, als die Orange die Lippen erreichte. Sie sah zu, wie Nummer 4 etwas Saft aus dem Mund lief. Linda zog mit dem Daumen den Hammer zurück und spannte den Hahn des Revolvers.
Bei dem Geräusch hörte Nummer 4 mitten im Kauen auf.
Sie wird nicht genau wissen, was es ist,
dachte Linda,
aber sie wird begreifen, dass es tödlich ist
. Nummer 4 schien von dem Geräusch wie erstarrt. Die Orange verharrte nur Zentimeter von ihren Lippen entfernt. Der ganze Körper bebte. Linda trat vor und hielt den Lauf der Waffe nur Millimeter von ihrer Stirn zwischen den Augen, so dass sie fast die Binde
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