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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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vielleicht noch einen Besuch abstatten würde.
    Adrian atmete tief ein und roch eine Mischung aus Zigarettenrauch und einer tropischen drückenden Schwüle, als hätte Brian den dampfenden Dschungel mitgebracht. Die trockene Frühlingskälte von Neuengland war verflogen, zumindest für Adrian.
    »Wieso hat niemand sonst was gesehen?«, fragte Terri Collins. Adrian war nicht sicher, ob sie wirklich eine Antwort von ihm erwartete, denn sie sagte es leise, als spräche sie mehr mit den schräg einfallenden Sonnenstrahlen als mit ihm.
    »Keine Ahnung«, sagte Adrian. »Die Leute kommen nach Hause. Sie denken ans Abendessen. Sie wollen ihre Familie sehen. Sie machen die Haustür hinter sich zu und lassen den übrigen Tag draußen. Wer schaut denn um diese Tageszeit auf die Straße? Wer merkt, dass etwas aus dem Rahmen fällt? Die wenigsten, Detective. Die Menschen suchen Routine. Normalität. Damit rechnen sie. Da könnte ein Einhorn die Straße entlanglaufen, und sie würden es wahrscheinlich nicht bemerken.« Als ihm der Satz herausgerutscht war, schloss Adrian einen Moment die Augen und hoffte, dass seine Worte kein weißes, gehörntes mythisches Tier heraufbeschworen, das die Straße entlangtrottete und nur für ihn sichtbar war.
    »Irgendjemand müsste doch etwas mitbekommen haben«, fuhr Terri fort, als hätte sie Adrians Worte nicht gehört.
    »Hat aber niemand. Nur ich«, bekräftigte er.
    Die Polizistin drehte sich zu ihm um. »Also, was haben wir demnach in der Hand?«, fragte sie, ohne wirklich mit einer Antwort zu rechnen.
    Sie beobachtete, wie sich Adrian, bevor er ausstieg, auf seinem Sitz herumdrehte. Einmal hatte sie einen Schizophrenen mitten in einer psychotischen Phase vernommen. Der Mann drehte sich ständig in die eine oder andere Richtung, aus der er etwas hörte, das nicht existierte, doch mit viel Geduld hatte sie am Ende eine brauchbare Beschreibung eines Einbrechers aus ihm herausbekommen. Ähnlich hatte sie schon oft die Erinnerungen von College-Kids angezapft, die irgendwie mitbekommen hatten, dass etwas
Schlimmes
passiert war – meistens eine Vergewaltigung –, ohne sicher sagen zu können, was sie gesehen oder gehört oder sonstwie mitbekommen hatten. Zu viele Drogen im Spiel. Zu viel Alkohol. Zu viele Faktoren, die ihre Beobachtungsgabe beeinträchtigten.
    Doch wenn sie sich Adrian ansah, bekam sie eine Gänsehaut. Einiges erinnerte sie an diese Studenten, anderes wieder nicht. Er wirkte zart, gebrechlich und dünn – als ob jede Minute, die sie sich ihm gegenübersah, irgendetwas an ihm zehrte. Sie hatte das eigentümliche Gefühl, als baute er jede Sekunde, die verging, in unendlich kleinen Schritten ab. Er litt an etwas, doch sie wusste nicht, woran.
    Detective Collins schien in Gedanken versunken. Brians Ton war energisch. Adrian vermutete, dass er so geklungen hatte, wenn er im Krieg Männer befehligte oder im Gerichtssaal einem widerstrebenden Zeugen eine Wahrheit entlockte. »Jetzt«, drängte sein Bruder ihn, »denk an das, was Tommy dir gesagt hat.«
    Adrian zögerte. Er wollte sich zu Brian herumdrehen und ihn fragen:
Was? Was hat mir Tommy gesagt, bevor er zerrissen wurde?
Doch dann fielen ihm die hastigen Worte seines Sohnes wieder ein:
Es geht ums Sehen.
    »Jennifer, Detective …
jemand braucht sie für einen bestimmten Zweck
. Jede andere Erklärung ist müßig, weil sie ausnahmslos nur zu demselben Schluss führen kann:
Sie ist tot.
Somit ist es nicht sinnvoll, diesen Möglichkeiten nachzugehen. Einzig sinnvoll ist es, davon auszugehen, dass sie noch am Leben ist, und zwar aus einem besonderen, klar definierbaren Grund. Sonst ist es für Sie und mich reine Zeitvergeudung.«
    Brian schnaubte. »Klare Ansage!«, platzte er heraus. Es war, als hätte er zu nah an seinem Ohr gebrüllt, und so zuckte Adrian ein wenig zusammen.
    Für Terri war das alles irres Zeug. Der Professor, der unentwegt blinzelte, was sie vage an ein Insekt erinnerte, und dem wie unter Strom die Hände zitterten, war eindeutig nicht ganz bei Sinnen, auch wenn ihr dafür keine medizinische Diagnose einfiel. Sie ließ den Blick über die Nachbarhäuser schweifen, als hoffte sie, mit ein wenig Glück könnte just in diesem Moment der weiße Lieferwagen mit quietschenden Reifen um die Ecke kommen, an den Bürgersteig heranfahren und Jennifer zur Tür hinauswerfen – ein bisschen angeschlagen, vielleicht sexuell missbraucht, aber doch in einer Verfassung, in der sie mit ein wenig Liebe und Therapie und

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