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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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berührte. Sie wartete einen Moment, bevor sie die Mündung direkt an das Gesicht drückte.
    Der Geruch von Waffenöl, der Druck des Laufs, diese Dinge waren für das Mädchen zweifellos unmissverständlich. Sie hielt die Position. Linda hörte ein Wimmern aus der Brust des Teenagers. Doch Nummer 4 sagte nichts und bewegte sich nicht, obwohl jeder Muskel in ihrem Körper vor Spannung zu platzen schien.
    »Peng!«, flüsterte Linda. Laut genug, um vom Tonabnehmer registriert zu werden, aber nur so eben. Dann ließ sie den Hammer langsam wieder zurückfallen. Mit einer übertriebenen Bewegung zog sie die Waffe in Zeitlupe vom Gesicht des Mädchens zurück und steckte sie in den Anzug.
    »Die Mahlzeit ist beendet«, sagte Linda knapp. Sie nahm Nummer 4 die Reste der Orange aus der Hand und ihr anschließend das Tablett vom Schoß. Sie sah, wie sich Nummer 4 wieder vom Kopf bis in die Zehenspitzen hinein verkrampfte. Sie hoffte, dass die Kameras das eingefangen hatten. Panik macht sich gut, dachte sie. Mit bedächtigen Schritten, die auf dem harten Zement kaum zu hören waren, ließ Linda den Raum mit Nummer 4 auf dem Bett hinter sich zurück.
    In der Kommandozentrale darüber grinste Michael. Das interaktive Messageboard leuchtete auf.
Eine Fülle an Meinungen und Reaktionen.
Er wusste, dass er sie später alle durchsehen musste. Er legte immer besonderen Wert darauf, auf dem Board, das er für Serie Nummer 4 eingerichtet hatte, die Chats zwischen Klienten zu verfolgen.
    Linda atmete tief ein, schloss die Augen und zog sich die Sturmhaube vom Kopf.
Ich bin eine Schauspielerin,
dachte sie.
     
    Weder Linda vor der Kellertür noch Michael an den Monitoren bekam in diesem Moment mit, was als Nächstes geschah. Einige ihrer Klienten dagegen beugten sich zu den Bildschirmen vor.
    Nummer 4 hatte sich, kaum war die Tür zugeschlagen, im Zimmer auf das Bett zurückgelegt. Sie hatte ihren Teddybären genommen, sich das abgegriffene Spielzeug zwischen die kleinen Brüste gedrückt und ihm wie einem Baby den Kopf gestreichelt, während sie dem leblosen Gegenstand unentwegt lautlos etwas zuflüsterte. Niemand, der sie beobachtete, konnte hören, was sie zu ihm sagte, auch wenn der eine oder andere aufs Geratewohl raten mochte, dass es immer wieder dieselben Worte waren. Sie konnten unmöglich an ihren Lippen ablesen, dass es die Worte
Ich heiße Jennifer ich heiße Jennifer ich heiße Jennifer ich heiße Jennifer
waren.

18
    T erri Collins lief in der Einfahrt von Adrians Haus hin und her, während er demonstrierte, wo er gesessen hatte, als er den Lieferwagen sah. Sie scharrte mit den Füßen, trat ein Steinchen weg; Adrian rutschte hinters Lenkrad. Sie fragte: »Und genau da haben Sie an dem Abend geparkt, als Jennifer verschwand?«
    Adrian nickte. Er sah, wie die Kommissarin Blickwinkel und Entfernungen und die Schatten um die entsprechende Tageszeit taxierte.
    »Sie sieht es nicht«, sagte Brian. Er saß auf dem Beifahrersitz. Auch er blickte zu der Stelle auf der Straße, an der der Lieferwagen langsamer gefahren war, dann angehalten und plötzlich Gas gegeben hatte.
    »Wie meinst du das?«, flüsterte Adrian.
    »Ich kann dir sagen, wie ich das meine«, polterte Brian. »Noch will sie das Verbrechen nicht wahrhaben, sie wehrt sich gegen die Vorstellung. Sie starrt genau auf die Stelle, aber bis jetzt versucht sie noch, Gründe dafür zu finden, wieso es
nicht
stattgefunden hat, statt zu fragen, weshalb es passiert ist. An dieser Stelle kommst du ins Spiel, Bruderherz. Überzeuge sie. Sorge dafür, dass sie den nächsten Schritt tut. Mach’s mit Logik. Zwing sie, dir zu glauben. Komm schon, Audie.«
    »Aber …«
    »Es ist deine Aufgabe, ihr vor Augen zu führen, was du an dem Abend gesehen hast. Das macht jeder Ermittler – auch wenn er es vielleicht nicht zugibt, weil es schlimmstenfalls verrückt, bestenfalls exzentrisch klingt. Sie stellen sich vor, was passiert ist und wie,
als ob sie dabei gewesen wären
 … und dann wissen sie, wo sie weitersuchen müssen.«
    Brian trug wieder seinen verblichenen Tarnanzug. Er hatte die Füße in den Kampfstiefeln aufs Armaturenbrett gelegt und lehnte sich zurück, um eine Zigarette zu rauchen. Der junge Brian. Der ältere Brian. Der tote Brian. Adrian wurde bewusst, dass sein Bruder ein Chamäleon aus halluzinatorischen Erinnerungsbruchstücken war. Von Vietnam bis zur Wall Street. Dasselbe galt für Cassie und Tommy und für jeden anderen, der ihm in seiner verbliebenen Gegenwart

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