Der Professor
aber sie ist jung. Sie hat noch ihr ganzes Leben vor sich. Egal, wie schlimm es für sie gewesen ist, heißt das nicht, dass es so früh enden sollte …«
»Ja«, antwortete Terri, »aber das versteht sich von selbst. Das hat wenig mit Polizeiarbeit zu tun.«
Adrian war unbehaglich. Er hatte noch nie mit der Polizei zu tun gehabt. Nachdem sich Brian umgebracht hatte, war das New Yorker Morddezernat schnell, effizient und unaufdringlich gewesen, weil der Fall auf der Hand lag. Als Cassie ihren Unfall hatte, war der Staatspolizist, der ihn anrief, dienstbeflissen, direkt und sachlich. Mit den endlosen Wochen, über die sich ihr Sterben hinzog, hatte die Polizei nichts mehr zu tun. Und Tommy – nun, das war ein routinemäßiger Anruf von einem Armeesprecher gewesen, bei dem er die Einzelheiten über seinen Tod sowie Ort und Datum erfahren hatte, um am Flughafen den Sarg seines Sohnes in Empfang zu nehmen. Für einen Moment schloss er die Augen, und in der Dunkelheit hinter den Lidern erhob sich eine Kakophonie, als versuchte mehr als eine Person auf einmal mit ihm zu sprechen, und er hatte Mühe, sich in dem Wirrwarr aus Worten und Stimmlagen zurechtzufinden.
»Ist alles in Ordnung, Professor Thomas?«
Er öffnete die Augen. »Ja, tut mir leid, Detective …«
»Sie wirkten gerade ein wenig weggetreten.«
»Tatsächlich?«
»Ja.«
Adrian sah sie fragend an. »Wie lange war …«
»Über eine Minute. Vielleicht zwei.«
Adrian hielt das für unmöglich. Er hatte nur eine Sekunde die Augen geschlossen, wenn überhaupt.
»Geht es Ihnen nicht gut, Professor Thomas?«, fragte Terri. Sie bemühte sich, den harten Ton der Polizistin abzustellen und eher wie eine Mutter zu klingen, die sich über ein fieberndes Kind beugt.
»Doch, alles bestens.«
»Sieht aber nicht so aus. Es geht mich zwar nichts an, aber …«
»Ich muss neue Medikamente nehmen. Hab mich noch nicht dran gewöhnt.«
Er glaubte nicht, dass ihm Detective Collins diese Erklärung abnahm.
»Vielleicht sollten Sie mit Ihrem Arzt reden. Wenn Ihnen das am Steuer passiert …«
Adrian unterbrach sie. »Tut mir leid. Kommen wir zur Sache. Wo waren wir?«
Terri hätte ihre Warnung über die Gefahr, in die sich der Professor begab, wenn er sich in diesem Zustand ans Steuer setzte, gerne zu Ende geführt. Doch sie biss sich auf die Lippen und wendete sich wieder dem wichtigeren Thema zu. »Jennifer … und wieso jemand …«
»Natürlich. Jennifer. Bedenken Sie Folgendes, Detective: Fast jedes Szenario, mit dem Sie oder ich vertraut sind, läuft auf ein und dasselbe hinaus:
den Tod.
Aus Sicht des Wissenschaftlers erscheint es daher wenig sinnvoll, sich in eine dieser Sackgassen zu begeben, selbst wenn sie vordergründig am aussichtsreichsten erscheint, denn die Antwort ist jedes Mal zu schrecklich, um darüber nachzudenken. Drehen wir den Spieß also herum. Welches Szenario würde mit dem
Leben
enden?«
»Sprechen Sie weiter.«
»Ja, gerne. Bis jetzt wissen wir Folgendes …« Adrian hielt inne, weil er sich fragte,
was
er tatsächlich wusste. Er spähte zu Terri Collins hinüber und stellte fest, dass sie auf ihrem Stuhl ein wenig nach vorn gerutscht war. Zugleich spürte er, wie sich etwas seitlich an ihn drückte, und er wollte sich danach umsehen. Doch dann merkte er, dass es nicht nötig war, da ihm seine Frau den Arm um die Schulter gelegt hatte und ihm eindringlich zuflüsterte: »Es geht nicht um Jennifer als Person. Es geht darum,
was
sie ist, nicht
wer
sie ist. Sag ihr …«
Genau das tat Adrian. Er sagte: »Sehen Sie, Detective, vielleicht haben wir es hier mit einer Kategorie von Verbrechen zu tun, bei der es nicht um eine bestimmte Person geht, sondern um einen bestimmten
Personenkreis
.«
Terri zog langsam ihr Notizbuch heraus. Sie hatte den Eindruck, dass der Professor in seinem Sessel unbehaglich schief und vornübergebeugt saß, so dass er jeden Moment das Gleichgewicht verlieren musste, doch was er sagte, hatte Hand und Fuß.
»Was wissen wir? Ein sechzehnjähriges Mädchen wird mitten auf der Straße entführt. Alles, was Sie über Jennifer oder ihre Familie wissen, zählt im Grunde nicht, verstehen Sie? Viel mehr müssen wir herausbekommen, wozu jemand den Typ, den sie verkörpert, brauchte und wieso das Paar durch diese Gegend gekurvt ist. Als Nächstes müssen wir uns eine Vorstellung davon machen, wieso sie, nachdem sie Jennifer entdeckt hatten, gerade sie haben wollten. Außerdem wissen wir, dass es sich bei den
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