Der Professor
unausgesprochene Frage. »Aber wir können es nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht auch eine Entführung. Vielleicht hat ihr auch jemand bei der Flucht geholfen. Es ist einfach noch nicht klar.«
»Und was glaubst du?«, fragte Laurie.
Terri zögerte. »Die meisten Kinder, die verschwinden, werden aus einem bestimmten Grund entführt. Gewöhnlich tauchen sie wieder auf. Zumindest, wenn man der Statistik glaubt.«
»Aber …«
Terri warf einen Blick nach nebenan, um sich zu vergewissern, dass ihre Kinder außer Hörweite waren. »Ich bin keine Optimistin«, sagte sie ruhig. Sie aß etwas Salat und nahm einen Schluck Wein. »Ich bin Realistin. Ich hoffe das Beste. Akzeptiere das Schimmste.«
Laurie nickte. »Ein Happy End …«
»Wenn du ein Happy End willst, sieh fern«, sagte Terri brüsk. Sie klang viel barscher als beabsichtigt, doch nach ihrem Gespräch mit dem Professor sah sie nur grau in grau. »Da wirst du jedenfalls eher fündig.«
Es war, wie sie fand, eine ungewöhnliche Art, ein Verbrechen aufzuklären. Es war spät geworden, Laurie hatte sich mit dem üblichen Angebot verabschiedet, »du kannst mich jederzeit anrufen, Tag und Nacht«. Die Kinder schliefen, und Terri saß beim dritten Glas Wein inmitten von Büchern und Artikeln und einem Laptop. Sie war in diesem seltsamen Schwebezustand zwischen Erschöpfung und Faszination.
»Sehen Sie, Detective, das Verbrechen, das da passiert ist, vor meiner Nase – das war nur der Anfang. Szene eins. Erster Akt. Auftritt der Antagonisten. Und das wenige, das wir darüber wissen, führt vermutlich nicht weiter. Besonders wenn die Täter in dem, was sie getan haben, erfahren sind.«
Die Stimme des alten Professors hallte mit seiner geballten akademischen Erfahrung durch die Zufluchtsstätte ihres kleinen, adretten, spielzeugübersäten Hauses. Sie hatte ihm nichts von dem gestohlenen Lieferwagen erzählt, der so gründlich abgefackelt worden war, dass wahrscheinlich keine Spuren mehr zu sichern waren. Solche Vorsichtsmaßnahmen traf jemand, der wusste, was er tat.
»Wir müssen uns mit dem Verbrechen beschäftigen, das gerade geschieht, während wir reden.«
Der Professor, dachte sie, neigte zu wilden Spekulationen und verrückten Ideen. Andererseits verbargen sich dahinter Überlegungen, die ihr plausibel erschienen. Sie hatte ihm aufmerksam zugehört und versucht, zwischen vielem Rätselhaften eine klare Linie zu erkennen. Das erste Rätsel lag auf der Hand:
Was stimmte nicht mit ihm?
Das zweite war um einiges komplizierter:
Wie findet man eine Jennifer, die entführt wurde und wie vom Erdboden verschluckt ist?
Sie hatte sich darauf eingelassen, den Professor einfach so zu nehmen, wie er war. Er war klug, scharfsinnig und hoch gebildet. Dass er immer wieder geistig wegtrat und auf Fragen und Bemerkungen antwortete, die gar nicht geäußert worden waren – soweit es sie betraf, alles ziemlich harmlos. Irgendwo in seinen umschweifigen Ausführungen zeichnete sich vielleicht ein Weg ab, den sie beschreiten konnte.
Auf ihrem Schoß lag die
Encyclopedia of Modern Murder
. Sie hatte den Abschnitt über die Morde im Moor zweimal gelesen und die Verbrechen anschließend gründlich im Internet recherchiert. Sie staunte immer wieder, was alles in versteckten Winkeln des Internets lauerte. Sie stieß auf Autopsiefotos, Tatortkarten und originale Polizeidokumente quer über die unterschiedlichsten Websites verteilt, die sich mit Serienmorden und Sexualdelikten befassten. Sie war versucht, sämtliche Bücher über Myra Hindley und Ian Brady zu bestellen, doch sie wollte nicht, dass diese Art von Lektüre neben
Der Kater mit Hut
und
Der Wind in den Weiden
oder
Pu der Bär
ihre Bücherregale füllte.
Sie achtete sorgsam darauf, jede mordtriefende Website, die sie aufrief, aus dem Verlaufsprotokoll zu löschen. Wäre nicht klug, etwas zurückzulassen, das ihr Sohn theroretisch anklicken und öffnen konnte.
Kinder sind von Natur aus Voyeure
, dachte sie,
doch alle Neugier hat Grenzen
. Das war ein ganz und gar vernünftiger mütterlicher Standpunkt.
Doch selbst nachdem sie alles ins Fegefeuer des Computers verdammt hatte, blieb ihr das, was sie gelesen hatte, im Gedächtnis haften.
So wie sie den Professor verstanden hatte, war dem Mörderpaar das Bedürfnis zum Verhängnis geworden, ihre Exzesse mit anderen zu teilen.
»Das ist der Schlüssel. Sie brauchten Publikum. Es genügte ihnen nicht, ihre Taten gemeinsam zu begehen. Hätten die beiden weiter
Weitere Kostenlose Bücher