Der Professor
Leute, Angehörige, Freunde, Kollegen, zurückließ, die sich fragten
Wie kann das sein?
und zu dem Schluss kamen, dass ihr Schritt nicht nachvollziehbar war.
Und ob er das war, sie wussten es nur nicht. Sie beobachtete ihren Sohn, wie er sich in den Sessel plumpsen ließ, das Fernsehen ignorierte und nach einem Bilderbuch griff. Sie fragte sich:
Bin ich noch rechtzeitig weggelaufen?
Die Flucht war ihr damals gelungen, als sie wusste, dass er ein paar Stunden in Beschlag genommen war. Sie war vorsichtig gewesen und hatte darauf geachtet, sich in den Wochen davor nicht zu verraten, sondern sich an die ganz banale Alltagsroutine gehalten, so dass es, als es so weit war, vollkommen überraschend für ihn kam. Sie ließ fast alles zurück außer ein bisschen Taschengeld und den Kindern. Alles andere konnte er behalten, es war ihr egal. Sie hatte in jener Zeit ein einziges Mantra, das sie sich immer und immer wieder vorsagte:
Mach einen neuen Anfang. Mach einen neuen Anfang.
In den Wochen danach hatte sie die einstweilige Verfügung erwirkt, die ihn auf Abstand hielt, sowie die Scheidungsregelung, die ihm begrenzten Zugang zu den Kindern gewährte, und außerdem sämtliche nötigen Papiere bei seinem befehlshabenden Offizier unten auf der Basis in North Carolina eingereicht, an der die First Airborne stationiert war. Sie hatte mehr als eine Sitzung mit Militärpsychologen über sich ergehen lassen, die sie nicht sonderlich subtil dazu überreden wollten, zu ihrem Mann zurückzukehren. Egal, wie oft sie ihn als »einen amerikanischen Helden« bezeichneten, sie hatte sich beharrlich geweigert.
Wir haben viel zu viele Helden,
dachte sie.
Doch ein vollkommenes Entrinnen gab es nie – zumindest keines, das sie nicht zwang, sich zu verstecken, unter falschem Namen zu leben, immer wieder den Wohnort zu wechseln, um in einer Welt, die mit Inbrunst jeden Menschen an die Öffentlichkeit zerrt, anonym zu bleiben. Ganz würde er
nie
aus ihrem Leben verschwinden. Dies war einer der Gründe, weshalb sie wieder die Schulbank gedrückt und so hart gearbeitet hatte, um Polizistin zu werden. Die Halbautomatik in ihrer Tasche und die Marke, die sie trug, waren, wie sie hoffte, eine klare Botschaft, ein Schutzwall gegen ihn und seinen schädlichen Einfluss.
Sie umarmte beide Kinder und schickte ein stummes Dankgebet zum Himmel: wieder ein Tag, an dem nichts passiert war. Terri beschäftigte die beiden mit Kinderaufgaben wie Zeichnen, Lesen oder Glotze und schlenderte in die Küche. Laurie bereitete gerade einen Teller Essen vor. »Ich bin davon ausgegangen, dass du nicht ganz die Wahrheit sagst«, kommentierte sie.
Terri betrachtete den aufgewärmten Hackbraten und kalten Salat. Sie nahm den Teller, schnappte sich Gabel und Messer und lehnte sich, immer noch im Stehen, an die Küchenschränke, um zu essen. »Du würdest eine gute Ermittlerin abgeben«, sagte sie, bevor sie sich den nächsten Bissen in den Mund schob.
Laurie nickte. Für jemanden, der so viel Zeit mit Raymond Chandler, Sir Arthur Conan Doyle und James Ellroy verbrachte wie sie, war das ein großes Kompliment. Nebenan beschäftigten sich die beiden Kinder still, was als Etappensieg zu werten war. Terri wollte sich gerade ein Glas Milch eingießen, besann sich aber und fand eine halbvolle Flasche Weißwein. Sie nahm zwei Gläser aus dem Regal. »Bleibst du noch ein bisschen?«
Laurie nickte. »Sicher. Weißwein und Kinder ins Bett bringen. Die beste Art, den Abend zu beschließen, solange ich rechtzeitig zu
Den Tätern auf der Spur
zu Hause bin.«
»Diese Serien, du weißt, dass die nicht den Tatsachen entsprechen.«
»Klar. Aber sie sind wie kleine Moralitätenspiele. Im Mittelalter haben sich sämtliche Bauern vor den Stufen irgendeiner Kirche versammelt und zugesehen, wie die Schauspieler die Geschichten aus dem Alten Testament aufgeführt haben, um ihnen Lektionen zu verpassen wie
Wenn du kein rechtschaffener Gläubiger bist, wird Gott dich bestrafen
. Heute zappen wir in der Glotze rum, um uns von Horatio Dingsbums oder Gus in Las Vegas mehr oder weniger das Gleiche sagen zu lassen, nur ein bisschen moderner.«
Sie lachten beide. »Zehn Minuten!«, rief Terri den Kindern nebenan zu und erntete für die Ankündigung das vorhersagbare Stöhnen.
Terri wusste, dass Laurie es kaum abwarten konnte, sie nach dem Fall zu fragen, an dem sie arbeitete, aber zu höflich war, um direkt auf das Thema zu kommen. »Eine Ausreißerin«, antwortete Terri auf die
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