Der Prometheus-Verrat
einem breiten Ledersessel jenseits des Mittelgangs saß und im schmalen Lichtkegel einer hellen Lampe ein in Leder gebundenes Buch las.
» Nu, vot eti vot, tovarishch Rosovski, dobri vecher «, sagte Bryson auf Russisch. » Shto vyi chitayete? « Seine Stimme klang matt und schleppend. Er fühlte sich benommen.
Waller blickte auf und lächelte. »Ich hab diese scheußliche Sprache tatsächlich schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesprochen, Nicky. Inzwischen fällt es mir entsprechend schwer. Er klappte das Buch zu. »Aber um auf deine Frage zu antworteten: Ich lese die Brüder Karamasow, zum wiederholten Mal. Nur um mich zu vergewissern, dass Dostojewski tatsächlich so schlecht schreibt, wie ich es in Erinnerung habe. Schlampig im Aufbau, moralinsauer bis zum Gehtnichtmehr und eine Prosa wie in einem Polizeibericht.«
»Wo sind wir?«
»Vermutlich irgendwo über Frankreich.«
»Wenn mir Drogen verabreicht worden sind, hoffe ich doch, euch nicht enttäuscht zu haben.«
»Ach, Nick«, entgegnete Waller. »Verständlich, dass du mir nicht mehr unbedingt trauen kannst, aber sei trotzdem versichert: Die einzige Droge, die dir verabreicht wurde, war ein Schmerzmittel. Zum Glück gibt’s bei Chek Lap Kok eine
halbwegs gut ausgestattete Unfallklinik für Reisende. Du hast da eine hässliche kleine Schusswunde abgekriegt. Offenbar schon die zweite innerhalb weniger Tage. Die erste hat dich an der linken Schulter erwischt. Ein Kratzer nur, und du hattest schon immer gutes Heilfleisch. Aber kann es sein, dass du ein bisschen langsamer geworden bist? Der Job ist wirklich was für Jüngere, so wie Football. Das habe ich dir schon vor fünf Jahren gesagt, als wir uns getrennt haben.«
»Wie hast du mich gefunden?«
Waller zuckte mit den Schultern und lehnte sich zurück. »Wir haben unsere Quellen, sowohl elektronische als auch menschliche. Das weißt du doch.«
»Ganz schön verwegen, mit einem US-Army-Hubschrauber in fremden Luftraum einzudringen.«
»Ach was. Oder hast du Harry Dunnes Märchen tatsächlich geglaubt und uns für ausgekochte Bösewichter gehalten? «
»Behauptest du das Gegenteil?«
»Ich behaupte gar nichts, Nick.«
»Du hast schließlich schon zugegeben, gebürtiger Russe zu sein. Gennadi Rosowski aus Wladiwostok. Ausgebildet als GRU-Agent für besondere Einsätze, als paminyatchik , Topspion der Sowjetunion, Spezialist für englische Sprache und amerikanische Kultur, hab ich Recht? Und ein Schachgenie. Juri Tarnapolski konnte all das bestätigen. Schon in der Jugend hattest du deinen Ruf weg; manche nannten dich den Magier.«
»Du schmeichelst.«
Bryson musterte seinen einstigen Mentor und sah, wie er die Beine ausstreckte und die Hände im Nacken verschränkte. Waller – und nur als diesen kannte er ihn, wenn überhaupt – schien ganz und gar mit sich im Reinen zu sein.
»Ich habe früher immer schon geahnt«, fuhr er fort, »dass meine GRU-Akte, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, eines Tages womöglich doch aus tiefen, kalten Gelassen an die Oberfläche und in die Hände des amerikanischen Geheimdienstes gelangen könnte – wie ein seit langem vergrabener Leichnam, den eine Flut aus seinem Grab schwemmt. Aber
wer hätte damit wirklich gerechnet? Nicht einmal wir selbst. Alle Welt macht sich über die CIA lustig, weil sie den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht vorhergesehen hat. Ich bin wahrhaftig kein Anwalt der CIA, halte den Vorwurf aber trotzdem für unfair. Schließlich hatte nicht einmal Gorbatschow kommen sehen, was passieren würde.«
»Weichst du jetzt einer Frage aus, die noch gar nicht gestellt wurde?«
»Dann stell sie doch.«
»Bist du ein paminyatchik , ein GRU-Spion, ja oder nein?«
»Der Blödmann von Senator McCarthy hätte genauer gefragt: ›Sind Sie oder sind Sie es je gewesen?‹ Ja, ich war einer, aber jetzt bin ich keiner mehr. Ist das unzweideutig genug?«
»Unzweideutig, aber vage.«
»Ich habe mich abgesetzt.«
»Bist auf unsere Seite gewechselt.«
»Klar. Ich war illegal im Westen und habe versucht, meinen Aufenthalt zu legalisieren.«
»Wann?«
»1956. Eingetroffen bin ich 1949 als 14-jähriger Junge. Damals war’s noch leicht, in seiner Tarnung unerkannt zu bleiben. Mitte der 50er Jahre kam mir dann die Erleuchtung, und ich habe mich von Moskau gelöst. Ich hatte die Nase voll von Genosse Stalin und meinen Glauben an die strahlende Zukunft einer kommunistischen Welt restlos verloren. Und ein wenig später, nämlich nach der Kuba-Krise, gelangte ich
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