Der Protektor (German Edition)
etwas kann nur in einem Labor passieren. Auch, dass nur der Arzt und seine Laborantin davon wissen. Sie haben den Versuch wiederholt, weil sie das Ergebnis anzweifelten. Sie haben ihn mit der folgenden Serie bearbeitet, aber gewusst, dass es ein „fremder“ war und ihn ans Ende gestellt. Und jetzt steht er nicht mehr dort.
„Möglicherweise hat sich Doktor Bresson geirrt?“, deute ich eine Möglichkeit an. „Er hat sie nach Ihnen durchgesehen und sie durcheinandergebracht?“
Statt einer Antwort schüttelt sie energisch den Kopf. Ihre großen Rehaugen sehen mich ernst und fest an.
Ich weiß, es ist nicht möglich. Irren kann sich nur jemand, der sehr erregt ist. Oder ein Fremder.
„Doktor Bresson hat es durcheinandergebracht!“, verkünde ich entschlossen. „Und ich bitte Sie, zu niemandem davon zu reden.“
Tyra wendet sich ab und schließt langsam den Kühlschrank.
„Ich kann schweigen, Doktor Bouché!“, sagt sie leise. Und fügt kaum hörbar hinzu: „Hier ist jemand gewesen!“
Dieses sanfte, traurige Mädchen hat einen unfehlbaren Spürsinn.
„Wir wissen es noch nicht“, sage ich ruhig. „Und eben deshalb darf nicht geredet werden, versprechen Sie es?“
Sie nickt.
Ich danke ihr und bitte sie, mich jetzt allein zu lassen.
„Wenn ich sie brauche, frage ich bei Doktor Falk nach Ihnen“, sage ich, während ich sie zur Tür bringe. Ich schließe ab und wende mich der absurden Beschäftigung zu, auch hier Fingerabdrücke zu sammeln – vom Kühlschrank und den Kolben. Es ist sinnlos. Der die Kolben hingestellt hat, hat bestimmt seine Visitenkarte nicht hinterlassen.
Aber er hat einen Fehler gemacht. Er hatte es eilig, hat die Kolben herausgenommen und sie angeschaut. Dann hat er sich vielleicht einen Augenblick gewundert, dass die Sieben nicht auf ihren Platz stand, hat aber nicht lange überlegt und sie dorthin gestellt, wo sie, wie er dachte, zu stehen hatte. Und wegen dieses Fehlers weiß ich jetzt, dass ich einen erfahrenen und entschlossenen Gegner habe. Einen Menschen, der vor nichts haltmacht, um in das Laboratorium eines anderen eindringen zu können. Wann ist das geschehen? Vor dem Tod Bressons oder danach?
Aber vielleicht hat dieser Mensch mit Bressons Tod gar nichts zu schaffen?
Ich lege die Lupe auf mein Knie und hebe die Augen. Mein Blick schweift über die von der Sonne beschienenen Labortische mit Gestellen und Petrischalen, über die Zentrifugen und Glasschränke. Die Geräte leben noch: Unsichtbare Relais reden in der Stille mit ihren leisen Stimmen, ein Sonnenstrahl wandert langsam über die Reagenzgläser und Pipetten. Ein Versuch wird nicht stattfinden. Statt des Doktors bin ich hier, der Fremde, der Mensch, der am allerwenigsten in diese Stille passt.
Ich mache mir keine Illusionen mehr. Doktor Bresson wurde von einer Zentrale überwacht. Auch über meine bisherige Arbeit gebe ich mich keinen Illusionen hin. Ich decke nur geringfügige Fehler eines Gegners auf, sehe Details indes das große Bild verdeckt bleibt.
Was hat er gemacht? Aufzeichnungen und Protokolle von Versuchen?
Ich lächle innerhalb über diesen Gedanken. Das Stehlen von Aufzeichnungen stand noch in den Büchern meiner Jugend. Die Spionage ist längst wissenschaftlich organisiert. Jetzt gibt es Zentralen, die schon für sich gewaltige Institute sind. In denen sind alle offiziellen oder halboffiziellen Laboratorien in Kartotheken erfasst. Da gibt es Dutzend Wege zum Sammeln von Informationen – von unseriösem Geschwätz oder unvorsichtigen Notizen in Zeitungen bis hin zu den Resümees in den referierenden Zeitschriften. Vom einfachen Wortdiebstahl bis hin zur Beteiligung an entscheidenden Versuchen durch eingeschleuste Agenten. All diese Informationen werden in Computern gespeichert und bearbeitet. Experten setzen die strategischen Zielrichtungen fest, die die Wirtschaftsspionage, darunter auch die in der Medizin, einschlagen muss.
Und dann: Niemand wirft Geld zum Fenster hinaus. Die Elektronik mit all ihren heimtückischen Erfindungen ist auf dem Posten – aber um strategische Bereiche zu beobachten.
Die Agenten sind hoch qualifizierte Profis, die Jahre zuvor in die entscheidenden Institute eingeschleust werden. Für eine elementare Information, für Aufzeichnungen, deren Inhalt sie auf zehn andere Arten erfahren können, werden sie nicht das kleinste Risiko auf sich nehmen.
Was hat er gesucht? Ich bin davon vielleicht genauso weit entfernt wie dieser Jemand. Aber ich habe auch keine Zeit.
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